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[ALMOST] FORGOTTEN
Anouar Badaoui im Club der Polnischen Versager
Anouar Badaoui im Club der Polnischen Versager
von Swantje Pieper
festhalten
Du hast recht,
Ich halte fest.
Ich halte fest am Leben
Ich halte fest an Gedanken.
Dem Gedanken des Loslassens.
Dem Gedanken des Festhaltens.
In dem Kreis der Gedanken drehe ich mich
und messe ihnen
so viel Kraft und Stärke bei
glaube sie geben mir Halt und
Essenz.
Glaube sonst mich aufzulösen.1
Wer im August 2022 Anouar Badaouis Einzelausstellung [ALMOST] FORGOTTEN im Club der polnischen Versager in Berlin-Mitte betritt, der findet sich zwischen Menschen, Tieren, Göttern oder Mischwesen wieder, die sich an den Wänden der beiden Ausstellungsräume versammeln. Mehr als 20 Malereien und Radierungen werden gezeigt. Die gestischen Malereien von Köpfen und Torsi vermitteln den Eindruck hastigen Entstehens; einige Bildnisse sind zusätzlich mit Sentenzen und Worten unterlegt oder übermalt. Die kleine Selektion der nebst den expressiven Malereien ausgestellten Radierungen kontrastiert mit einer bedächtigen Seite des Künstlers.
Abb. 1 Ausstellungsansicht; v.l.n.r. You get what you, 2022, Acryl und Tiefdruck auf Büttenpapier, 80x105cm; Ripped Off, 2022, Acryl auf Büttenpapier, 80x105;Corpo, 2022, Acryl auf Büttenpapier, 80x105cm. Foto: SP
Der Überblick: Zwischen Selbstauflösung und Selbstbetrachtung
Über einem Dreiergespann aus Acrylmalereien auf Büttenpapier prangt in großen dunkelroten2 Lettern „SURRENDER THYSELF“ (Abb. 1): sich aufgeben, sich ergeben, sich auflösen, sich hingeben, loslassen. Ist das eine Aufforderung, sich den Werken der Ausstellung frei von Vorannahmen zu nähern? Ist es ein Versprechen im Sinne einer Erlösung des Selbst, das der Künstler uns mit dem Eintritt in die Ausstellungsräume gibt? Berichtet er über die Prozesse des Malens und Ätzens als Techniken zur temporären oder rituellen Selbstvergessenheit und Loslösung vom Selbst? Und wie ist diese Botschaft zu verstehen im Kontrast zum einleitenden Gedicht, das zwischen Festhalten und Loslassen changiert?
Sowohl die Bilder als auch die Texte stammen aus Badaouis Feder, widersprechen sich jedoch stellenweise, was einen belebenden Effekt auf das jeweils andere Medium ausübt. Beide eint ihr ‚ungefilterter‘, d. h. unvermittelter Ausdruck. Während die Bildserie öffentlich ausgestellt ist, bleibt das Gros der persönlichen Texte unter Verschluss: Neben einer tagebuchartigen Textsammlung in einem unveröffentlichten Buch ist eine Anthologie der Gedichte auf der Website des Künstlers zu lesen. Die hier in den Dialog gesetzten Texte schaffen den Hintergrund, vor dem die Bildwerke über ihren Ausstellungskontext hinausgehend erfahren werden können. So verdeutlicht sich etwa in folgenden Worten die Beziehung zwischen Loslassen und Festhalten:
Wenn ich das wirklich könnte, mich hingeben und loslass-
En3, würde ich nicht darüber schreiben.
Mein Denken würde sich anders manifestieren.
So schreibe ich, um mich nicht aufzulösen in dieser Welt
Der Festigkeit. Auch wenn dabei keine Geschichte entsteht
Um euch zu unterhalten.4
Die Selbstaufgabe ist das eine, doch wie konstituiert sich das Selbst überhaupt? Die Ausstellung reicht dafür Impulse: Originär bildimmanente Ansprachen wie „U GET WHAT U DESERVE“ oder „I LOVE YOUR BOREDOM“ sowie Fragen wie „STILL LOOKING FOR FREEDOM?“ und nicht zuletzt das vertikale Stoffbanner mit dem elffach wiederholten Wort „EGO“ brechen aus dem Bild heraus. Aus den Sätzen und Fragen spricht Angriffslust, manchmal Hochmut. Hinzu kommt ein dynamischer Malduktus, der ein Netz aus bunten Linien und Flächen entstehen lässt, das sich wie ein Gewebe zu Körpern und Köpfen zusammensetzt. Die düstere Mimik der frontal dargestellten Gesichter spiegelt die herausfordernde Kraft der Wörter und Sätze wider. Und obwohl die Gesichter ehrfurchteinflößend, urteilend, grimmig, bestenfalls neutral oder ruhig sind, einige Figuren spezifische Attribute wie spitze Ohren oder runde Nasen haben, lassen sich schwer Individuen mit persönlichen Merkmalen identifizieren – vielmehr sind es Typisierungen, die stellvertretend für eine Anzahl von Körpern und Wesen stehen.
Abb. 2 Ausstellungsansicht; v.l.n.r. Nosferatu, 2022, Acryl auf Büttenpapier, 80x105 cm; Silenced, 2022, Acryl auf Papier, 60x80 cm; Nymph I, 2022, Acryl auf Büttenpapier, 44,5x59 cm; Roots, 2022, Acryl auf handgeschöpftem Papier, 50x60 cm; Doc, 2022, Acryl auf Büttenpapier, 39x53,5; Apoll, 2022, Acryl auf Büttenpapier, 80x105 cm. Foto: SP
Alle kapseln sich ab und halten mit jeder Kraft an etwas
Fest. Um sich nicht zeigen zu müssen. So ein schöner Wi-
Derspruch, weil sie dadurch so viel preisgeben.
Doch gibt es nichts woran ich festhalten kann. Alle Bilder
Trennen sich vor mir auf und ich erkenne die Masken, die
Die vielen Gesichter schmücken.5
Masken werden hier mit einem ‚unechten Selbst‘ assoziiert und implizieren damit eine Opposition zu etwas wie einem ‚echten Selbst‘. Sie dienen als Schutz und zur Abgrenzung, bieten Anonymität, nivellieren soziale Kategorien und sind nicht zuletzt Schmuck. Bei Badaoui dominiert allerdings ein verfremdender, ein sich scheinbar vom ‚wahren‘ und nackten Selbst entfernender und damit negativer Beigeschmack die Zierfunktion.
Ob fleischlich oder knöchern, ob lebendig oder tot, ob belebtes Subjekt oder unbelebte Maske, Badaouis Sujets scheinen in den Zwischenwelten und Blendungen heimisch. Zustände des (Alp-)Traumartigen und Imaginativen verbinden sich mit dem Hier und Jetzt. Nosferatu (Abb. 2), der Untote, der verstorbene Mensch, der sich unter den Lebenden aufhält, verkörpert diese Transgression der Grenze zwischen Leben und Tod.
Wandelnde Tote, die nach dem Leben lechzen.
Doch mit dieser Erkenntnis und dem Loslassen dieser be-
Stimmten Manifestation des Lebens, können wir vielleicht
Wieder eins werden mit dem, was wir vergessen haben zu
Sein oder sein können.6
Die Bezugnahme auf das Vergangene verkörpert sich auch in Figuren wie Geistern oder Ahnen. Weitere Werktitel wie Nymph I und Apoll weisen auf mythische Figuren hin. Andere adressieren seelische wie körperliche Brutalität und Vulnerabilität: Corpo, Ripped Off, In Chains II, Longing I, Silenced (Abb. 2). Auch Geschlecht und Herkunft scheinen hinfällige Ordnungen zu sein:
Es spielt zu diesem Zeitpunkt keine Rolle welches
Geschlechtes oder welcher Herkunft ich bin.
Ich bin eine Anzahl von Möglichkeiten.
Auch wenn es eine begrenzte ist.7
Das Anonyme, – weil Maskenhafte, Geschlechtsneutrale wie Unkonkrete – das die Figurentypen kennzeichnet, ist wiederum geeigneter Ausgangspunkt, um das Ich in die Arbeiten zu setzen. Allgemeinhin dienen Bilder – mal mehr, mal weniger – als Projektionsflächen für die Gedanken ihrer Betrachtenden, sie resonieren mit ihnen und für jede:n ergeben sich anhand ihrer:seiner Realität andere Sinnzusammenhänge. Bewusst oder unbewusst übertragen sich Anteile des Selbst – Affekte, Impulse, Wünsche – auf die Werke. Bei Badaoui ist es besonders das Farbgewirr, das paradoxerweise als ein unbeschriebenes Blatt – tabula rasa – für die individuellen Projektionen der Betrachtenden herhält. Die Projektionen können produktiv verstanden werden, indem sie Motor zur Selbstauflösung, oder anders: zum Verschmelzen des Selbst mit den Figuren der Bilder sein können. Werk und Rezipierende vermischen sich. „Essenz und Existenz, Imaginäres und Wirkliches, Sichtbares und Unsichtbares – die Malerei bringt alle unsere Kategorien durcheinander, indem sie ihre Traumwelt leiblicher Wesen […], wirksamer Ähnlichkeiten und stummer Bedeutungen entfaltet.“8, so Merleau-Ponty.
Unter Vermeidung einer naturalistischen Realitätswidergabe findet demnach malerisch eine Abstraktion statt, welche die Aktion der Wahrnehmung betont. Die dabei aufblitzenden Themen müssen nicht zwangsläufig denen des Malers entsprechen, dieser baut allerdings durch assoziative Titel, Über- oder Inschriften Brücken zu den Betrachtenden. Badaoui spielt mit dem, was er provoziert:
Der Mensch hat sich selbst zur fiktiven Figur gestaltet.
Alles was er sein könnte, hat er zu seinem Bild gemacht.9
Das Schaffen von Selbstbildern, die naturgemäß subjektiv sind und fiktive Elemente beinhalten, führt für den Künstler zur Selbstbegrenzung. Mit dieser Kritik an der Selbststilisierung und -inszenierung sowie der Identifikation mit fremden Bildern negiert Badaoui sein zuvor implizierts und somit kreiertes Ideal von etwas wie einer ‚reinen Essenz des Selbst‘:
Alle Ideale scheinen erlogen.
Jedes Bild erschaffen.
Es gibt keine Reinheit oder gar Wahrheit,
Wir sind alle das, was wir sind.
-Dreck.-
In Dreck geboren,
enden wir wieder als Dreck.10
Abb. 3 Still looking, 2022, Acryl auf Leinwand, 150x200 cm. Foto: SP
Im Einzelnen: Die Freiheit der Gedanken
Zu den Hauptwerken der Ausstellung zählen die großformatigen Leinwandmalereien, die mit zarten Nadeln an die Wand gepinnt wurden, was ihren unmittelbaren Charakter unterstreicht; sie sind nicht unter Glas ‚weggesperrt‘, auch nicht vor Umwelteinflüssen geschützt. Kann die einfache Hängung, die Nachlässigkeit in Komposition und Perspektive sowie das expressive Malen Badaouis als Deskilling11 begriffen werden – ein Konzept, das bewährte und elaborierte handwerkliche Maltechniken verwirft?
In Still looking (Abb. 3) dominiert Gelb, es begrenzt das rechteckige Format und die beiden Figuren, von denen eine uns mit ihrem Oberkörper zugewandt ist, sich die andere zur rechten Seite mit nach unten geneigtem Kopf abwendet und im Profil sichtbar ist. Die Primärfarben Gelb, Blau, Rot wurden – ohne sich mit dem Mischen von Farben aufzuhalten – hastig auf den Stoff aufgetragen. Zuweilen vermischen sie sich zu Grün oder Rosa. Unter der willkürlich anmutenden Farbwahl schimmern noch die Bleistiftlinien im selben, sich spontan für eine neue Zeichenrichtung entscheidenden Duktus durch.
Die wesentlichen Umrisse der Figuren wurden in Schwarz gemalt, die Frage „STILL LOOKING FOR FREEDOM?“ ist braun und mit einem gelb-roten Raster überzogen. Impliziert das Durchkreuzen der Frage ihre Negation?
Aus der zugewandten Person mit dem dichten Liniengeflecht im Kopfbereich tritt die Frage wie eine Sprech- bzw. Gedankenblase hervor. Wenn der Kopf, der reich bemalt ist, als gedankenvoll gelesen werden kann, dann ist der Kopf mit weißer Leinwand demgegenüber gedankenlos: Die abgewandte Person hat den ‚Kopf frei‘.
-Die Angst davor, dass die Leere der eigentlich natürliche
Seinszustand ist.-12
Abb. 4 In Chains II, 2022, Acryl und Bleistift auf Leinwand, 220x200 cm. Foto: SP |
Wann und wie finde ich heraus, ob meine Gedanken wirk-
Lich meine Gedanken sind?13
Die Aufschrift „THE ONLY THOUGHT IS LOST“ spielt erneut mit der Gedankenlosigkeit. Den ‚einzigen Gedanken‘ verloren zu haben, klingt unrealistisch wie endlich. Sind wir nicht tot, sobald der letzte Gedanke in unserem Kopf verhallt ist? Wiederholt wurde das Wort „THOUGHT“ durchgestrichen. Als einziger Hoffnungsschimmer treten das „YOU CAN ONLY TRY“ und das danebengekritzelte „WILL“ in Erscheinung. So wie die Worte angeordnet sind, geben sie den Prozesscharakter ihres Entstehens preis. Auch Verknüpfungen des Nichtdenkens mit Meditationen sind naheliegend.
Wenn ich nicht los lasse von dem Gedanken oder besser
Gesagt der Wahrnehmung, wie die Menschen mich im Au-
ßen betrachten oder klassifizieren (was automatisch durch
unsere Prägung geschieht), werde ich es nie schaffen das
Sein zu erfahren.14
Dass ein Endpunkt des Denkens und Loslassens, des Sich-Auflösens ein abstraktes und damit unerfüllbares Ideal ist, kündigt sich schon im Ausstellungstitel an. Die Ausstellung heißt nicht „FORGOTTEN“, sondern „[ALMOST] FORGOTTEN“. Das unaufdringliche Wörtchen „[ALMOST]“ in eckigen Klammern ist die wichtige Zugabe, die das Eingeständnis macht, dass der Weg des Vergessens zwar beschritten wird, das Ziel aber nicht erreicht ist. Das Vergessen ist wesentlicher Teil der Selbstauflösung, wozu in „SURRENDER THYSELF“ im ersten Raum aufgefordert wurde. Auch wird klar, dass die Anstrengungen des Vergessens und Loslassens schmerzhaft sein können und die „Hingabe, das Sichverströmen und das Verblitzen“15 immer auch Verlust von etwas bedeuten.
Ich muss zurückgehen, diminuieren, löschen und wieder
Null werden. Herausfinden was sich unter null befindet.16
Abb. 5 a/b/c v.l.o.n.r. a: Ohne Titel, 2021, Strichätzung, 24,5x32,5 cm; b: The dark ones I-IV, 2022, Lack auf Kupfer, 14,8x21 cm; c: Ohne Titel, Strichätzung, 24,5x32,5 cm. Foto: SP |
In der Grauzone: Radierungen und Kupferplatten
Im hinteren Raum der Ausstellung hängen kleinformatige Radierungen (Abb. 5a/c), die sich in vielfacher Hinsicht von den Malereien unterscheiden: Neben der offensichtlichen Diskrepanz in Größe und Farbe sind die Linien außerdem delikater und die Gesichter wenden sich häufig ab, sodass sich ein Teil von ihnen im Schatten verbirgt; sie entziehen sich den Blicken eher, als dass sie sie konfrontieren. Wie in allen Arbeiten Badaouis wohnt in ihnen Dunkelheit, hier auf eine durchaus empfindsame Weise. Ohne Titel verweisen die Grafiken auf nichts und niemanden, die Gesichtszüge haben aber durchaus persönliche Nuancen. Die Schwarz-Weiß-Kontraste sind ausbalanciert, die Flächigkeit korrespondiert behutsam mit der Linearität. Diese Arbeiten haben nichts mehr mit der Idee des Deskilling zu tun; ihnen ist Badaouis künstlerische Fertigkeit und die jahrelange Praxis anzusehen. Insgesamt sind sie ruhiger und harmonischer im Spiel mit Licht und Dunkelheit.
Die Frage die hier aufkommt ist: kann es ein Leben geben,
das ausserhalb dieser ständigen Widerstände stattfindet?
Ein Leben in uns.
Ohne positiv oder negativ, ohne Licht oder Dunkelheit,
böse oder gut.
Ich bin dann glücklich, wenn ich bin und vergesse, dass ich
Bin. In der Grauzone.17
Die vier eingeritzten Kupferplatten der dark ones (Abb. 5b) sind die Vorstufe des gedruckten Blattes der Radierung. Die Flächen schimmern schwarz-braun von der Druckfarbe. Man könnte meinen, mit den gerahmten und mit Passepartout versehenen Kupferplatten würde etwas Unfertiges – das Negativ zum gedruckten Positiv – in den Stand eines ‚vollendeten‘ Werkes erhoben werden. Doch wo sind diese Positive? Ihr ‚Fehlen‘ betont eine vermeintliche Lücke und wirft die Frage auf, ab welcher Entstehungsstufe Kunstwerke wert sind, ausgestellt zu werden.
In ihrer Materialität verweisen die Platten auf ihr gedrucktes Pendant, die Radierungen in ihrer Motivik der maskenhaften Köpfe auf die Malereien. Die sichtbaren Ritzen im Metall demonstrieren, was auf der glatten Oberfläche der gedruckten Blätter nicht sichtbar wäre: den das Material verletzenden Akt des Ritzens, der zugleich ein Bild erschafft.
Die Ehrfurcht vor dem ‚vollendeten Original‘ und der Aura von Kunstobjekten allgemein wird auch damit gebrochen, dass auf dem WC der Ausstellung, direkt gegenüber der Toilettenschüssel, ein Werk hängt, das mit der Frage „WHAT IS HOLY?“ ironisch Bezug zum Raum nimmt. Eine Folgefrage drängt sich auf: Ist Kunst nicht zu schade, um auf der Toilette zu hängen? Wer den Regelkatalog von Artotheken kennt, weiß, dass die ausgeliehenen Werke nicht in Küche und Badezimmer versichert sind, weil sie dort aufgrund der Luftfeuchtigkeit Schaden nehmen können. Diese Regel dient dem Erhalt. Was aber, wenn es nicht um die Langlebigkeit der Kunstwerke, sondern die Intensität ihres Daseins geht?
Die Hängung im Bad widersetzt sich außerdem dem Anspruch auf Ganzheit, den die wissensdurstigen und sorgfältigen Besuchenden für sich kultivieren, wenn sie Ausstellungen begehen. Da nicht alle Besucher:innen Zeit ihres Ausstellungsgangs auf die Toilette müssen, ‚verpassen‘ einige diese Arbeit, zumal sie auch nicht auf der Werkliste steht.
Eine ähnlich ungewöhnliche Hängung findet sich in einem verschlossenen Treppenabgang, der nur durch ein Guckloch einsehbar ist. Wie ein Schrank in eine andere Welt führt er ins Verborgene und erlaubt den gläsernen Durchblick auf eine Malerei.
Abb. 6 Anouar Badaoui (r.) im Gespräch mit einem Freund; im Hintergrund: Forgotten ones, 2022, Acryl auf Büttenpapier, 30x40 cm; Love your boredom, 2022, Acryl auf Leinwand, 105x160 cm. Foto: SP
Präsenz und Bewegung
Der Club der polnischen Versager ist ein Ort mit eigenem Charakter, der eher an ein Wohnzimmer als an einen white cube erinnert. Badaoui erfüllt darin eine Doppelrolle als Künstler und Kurator: Er hat die Räume geleert, die Wände rustikal gestrichen, die Hängung und Belichtung provisorisch arrangiert. Die persönliche Atmosphäre zieht sich durch die Ausstellung, denn Badaoui ist die gesamte Zeit vor Ort und immer wieder schauen Freund:innen vorbei. Zur Vernissage und Finissage erklingt das Klavier, auch spontan zwischendrin. Der Badspiegel wurde von einer Freundin des Künstlers mit „Ich liebe das Leben“ getaggt – bezugnehmend auf eine Zeile aus einem Gedicht Badaouis:
Ich liebe das Leben,
bin bloß zu feige
es zuzugeben.
Leichter
im Schatten der Verachtung
zu verweilen.
Die Verneinung
als Vereinfachung.
Du, Ich, Wir.
Alles so ein schönes Spiel18
Das Mäandern um Themen wie Auflösung, Hingabe und Kapitulation erschöpft sich nicht. Badaouis künstlerische Auseinandersetzung nimmt Lücken, Widersprüche und Wiederholungen auf und gibt ihnen Raum. Es gibt keine Antworten; vielmehr ist jede Auseinandersetzung mit den Themen ein weiteres Versinken in sie.
Körper, Gewebe, Fleisch – was in Badaouis Malereien motivisch festgehalten ist, steht dem in Fleisch und Blut gegenüber. In der Überkreuzung von Werk und Besuchenden, also in der Eröffnung eines dynamischen Spielraumes zwischen Objekten und Subjekten, liegt die Stärke der Ausstellung. Um noch einmal Merleau-Ponty zu Wort kommen zu lassen: „Von nun an kann mein Leib Teilstücke von anderen aufweisen, wie meine Substanz in sie eingeht, der Mensch ist für den Menschen Spiegel.“19 Und in der Erweiterung haben auch Badaouis Werke eine Spiegelfunktion für diejenigen, die sich auf sie einlassen. Die hier in Beziehung gesetzten Gedichte können dafür ein verstärkendes bzw. vertiefendes Instrument sein. Die Anmut der Ausstellung liegt in jener Dynamik des Spielraumes, die einer fixierten, unbeweglichen Idee von Schönheit, Vollendung, Kunstwerk und Ausstellung widerspricht; im Zufälligen, im Situativen und in der Bewegung.
Anouar Badaoui: [ALOMST] FORGOTTEN
Club der polnischen Versager, Berlin
12. – 25. August 2022
Swantje Pieper studiert Kunstgeschichte im globalen Kontext mit dem Schwerpunkt Europa und Amerika an der Freien Universität Berlin. Ihr derzeitiges Augenmerk liegt auf der Synthese von Literatur, insbesondere Philosophie und Lyrik, mit moderner und zeitgenössischer Kunst. Dabei interessiert sie auch die Kombination von Schrift und Bild, oftmals im Zusammenhang mit Fotografie. Zudem gilt ihre Aufmerksamkeit politischen und feministischen Positionen, für die sie sich auch im Rahmen ihres vorangegangenen Sozial- und Kulturanthropologiestudiums sensibilisierte.
1 Anouar Badaoui, https://anouarbadaoui.com/texte/, Zugriff: 05.10.2022.
2 Der Name der violett-roten Farbe Caput Mortuum entstammt alchemistischem Vokabular und bedeutet lat. ‚Totenkopf‘, weil sie angeblich die Farbnuance geronnenen Blutes an den Schnittstellen der Köpfe Enthaupteter ist – eine nette Koinzidenz mit Badaouis fast barbarischen Köpfen.
3 Die lyrischen Extrakte wurden unverändert übernommen, die Markierung der fettgedruckten Wörter nahm die Autorin vor, um die Bezüge zu verdeutlichen.
4 Anouar Badaoui, X: Leben in Widerständen (unveröffentlicht), 52.
5 Badaoui, X, 30.
6 Badaoui, X, 42.
7 Badaoui, X, 5.
8 Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist: Philosophische Essays (Hamburg: Meiner 2003), 288.
9 Badaoui, X, 5.
10 Badaoui, X, 54f.
11 Benjamin Buchloh definiert Deskilling als "concept of considerable importance in describing numerous artistic endeavors throughout the twentieth century with relative precision. All of these are linked in their persistent effort to eliminate artisanal competence and other forms of manual virtuosity from the horizon of both artist competence and aesthetic valuation." In: Benjamin Buchloh, Gabriel Orozco, Sculpture as Recollection. Gabriel Orozco. Museo del Palacio de Bellas Artes Mexiko, (London: 2006).
12 Badaoui, X, 53.
13 Badaoui, X, 71.
14 Badaoui, X, 67.
15 Georges Bataille, Der Fluch der Ökonomie (Berlin: Matthes und Seitz 2020), 50.
16 Badaoui, X, 9.
17 Badaoui, X, 16.
18 Anouar Badaoui, https://anouarbadaoui.com/texte/, Zugriff: 05.10.2022.
19 Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, 287.