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Rineke Dijkstra:
Still – Moving. Portraits 1992 – 2024


von Pauline Barnhusen

Rineke Dijkstra: Still – Moving. Portraits 1992 – 2024
Berlinische Galerie, Berlin, Deutschland 
8. November 2024–10. Februar 2025

Eine Gruppe von Schulkindern betrachtet das Gemälde La Femme qui pleure (Die weinende Frau) von Pablo Picasso. Sie tragen einheitliche Schuluniformen: weiße Blusen oder Hemden, rote Krawatten, graue Pullover und Strickjacken. Zuerst ist es still, die Kinder schauen angestrengt auf das Gemälde, man hört nur hin und her tretende Füße oder Arme, die versucht werden, in eine bequeme Position zu bringen. Nach ersten allgemeinen Feststellungen zu den Farben und Formen des Gemäldes rätseln die Schüler:innen, warum die dargestellte Frau weint. Dabei schaukeln sie sich mit ihren Theorien immer weiter hoch. Die Diskussion beginnt mit “Es gibt viele verschiedene Farben in vielen verschiedenen Teilen des Bildes“ und endet mit “Menschen weinen, wenn sie bei der Castingshow X-Faktor gewinnen, sie sind nicht traurig, sondern weinen, weil sie glücklich sind“. Die Kinder sind auf drei eng aneinander gereihten Video-Screens mal einzeln in Großaufnahme, mal mit ihren Kamerad:innen zu sehen. Je mehr sie sich mit ihren Interpretationen des Gemäldes überschlagen, desto mehr überlagern sich auch ihre Stimmen. Die Kinder bilden durch ihre Schuluniform eine einheitliche Gruppe. Erst durch die ausgesprochenen Meinungen über das Picasso-Gemälde wird ein Einblick in ihre individuelle Gedankenwelt ermöglicht. Doch auch darüber hinaus ist die Gruppe gar nicht so uniform, wie sie zu sein scheint, sondern kleine Details wie drei einrasierte Streifen im Haar über dem Ohr, ein blauer Anstecker in Form eines Wappens oder eine Strähne aus bunten Perlen, die mit einer großen Spange ins Haar geklippt ist, geben Aufschluss auf die individuelle Inszenierung der einzelnen Kinder.

Ausstellungsansicht „Rineke Dijkstra. Still — Moving. Portraits 1992 - 2024“, Berlinische Galerie, © Foto: Roman März


Diese Details sind nicht nur charakteristisch für die Drei-Kanal-Videoinstallation I See a Woman Crying (2009), sondern auch für alle anderen Werke der Künstlerin Rineke Dijkstra, die in der Retrospektive Still – Moving. Portraits 1992 – 2024 in der Berlinischen Galerie zu sehen sind. Individualität, (Selbst-)Inszenierung und das Ausdrücken von Persönlichkeit, das alles sind Themen, mit denen sich Fotografieausstellungen zuletzt mehrfach auseinandersetzten, so beispielsweise auch die Ausstellung Like A Whirlwind im f³ – freiraum für fotografie in der die fotografischen Experimente mit Geschlechterrollen und Crossdressing der norwegischen Künstlerinnen Bolette Berg und Marie Høeg präsentiert wurden. Im Museum Folkwang in Essen setzte sich zuletzt Grow it, show it! mit der geschichtlichen, politischen und alltagskulturellen Bedeutung von Haaren auseinander. Auch in der Berlinischen Galerie sollen die Besucher:innen mithilfe dieser Themen einfacher eigene Zugänge zum Werk von Dijkstra finden. Aber werden sie auch wirklich ermöglicht? 

Bereits zu Beginn der Ausstellung wird es vor allem für heimische Besucher:innen versucht. Den Ausgangspunkt bildet die über acht Jahre laufende Serie Parks (1998-2006), in denen die Künstlerin Kinder und Jugendliche in verschiedenen Parks portraitierte, darunter auch der Berliner Tiergarten. So kann gerätselt werden, ob man bereits an den Orten im Tiergarten vorbeigelaufen ist. Auch in diesem ersten Raum mit der Parks-Serie lässt sich wieder die detailreiche Inszenierung im Werk von Dijkstra bewundern, wie in dem Porträt einer jugendlichen Vierergruppe im Vondelpark in Amsterdam, vor denen, perfekt drapiert oder vielleicht auch nur beiläufig hingeworfen, einzelne Schokoladen eingewickelt in rotem Papier liegen. Auf einem anderen Porträt im Sefton Park in Liverpool sitzt ein Paar. Er, rechts, breitbeinig, die Hände locker auf den Knien, die Beine so breit gespreizt wie die schwarze Jeans es zulässt. Sie, links, die Beine so nach innen verdreht, dass sich die Spitzen ihrer Schuhe berühren. Auch ihre Knie sind nach innen verdreht, sie würden sich berühren, wenn nicht noch ihre Hände eng aneinander liegend dazwischen gepresst wären. Für viele Frauen keine unbekannte Szene, beispielsweise bei Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln. Obwohl die große Wiese um das Paar herum menschenleer ist, scheint die junge Frau zu versuchen, so wenig Platz wie möglich einzunehmen und hinter ihren langen schwarzen Strähnen des Ponys zu verschwinden. Er lächelt leicht. Sein Blick ist entspannt. Ihre Lippen sind zu einem schmalen Strich geformt und spiegeln ihr Unbehagen.

Rineke Dijkstra, Vondelpark, Amsterdam, June 10, 2005, © courtesy of the artist, Galerie Max Hetzler, Marian Goodman Gallery and Galerie Jan Mot


Dijkstra spielt in ihren Darstellungen oft mit Geschlechterrollen, jedoch ohne dass ihre Protaganist:innen dabei abwertend dargestellt werden. So auch in den Serien New Mothers (1994), Bullfighters (1994, 2000) und Tia (1994), die in einem Raum gegenübergestellt werden. New Mothers und Tia zeigen Mütter in Abständen von einigen Stunden bis zu fünf Monaten nach der Geburt ihres Kindes. Die neuen Mütter Julia, Saskia und Tecla in New Mothers drücken ihre Kinder eng an ihren nackten Körper. Die Serie Bullfighters zeigt vier Stierkämpfer unmittelbar nach dem Kampf. Ihre Gesichter und ihre weißen Hemdkragen sind blutverschmiert und die Jacketts aus Brokat mit floralem Muster zerrissen. Auch bei Saskia läuft ein blutiger Streifen an ihrem Bein herab. Egal ob neue Mutter oder Stierkämpfer, die Protagonist:innen der beiden Serien scheinen gerade aus einer Schlacht zurückgekommen zu sein. Die Gegenüberstellung der Fotografien funktioniert sehr gut, leidet aber darunter, dass noch die Fotografie eines katholischen Schuljungen aus Liverpool dazu gehängt wurde. Neben den anderen ausdrucksstarken Serien wirkt das Bild blass und fehl am Platz.

Auch im Zwischengang davor hängen eng gedrängt einige Fotografien der Serie Beach Portraits (1992-2002) oder das Portrait von Isabel (1998), deren Platzierung nebeneinander willkürlich erscheint und die eher so wirken, als hätte man sie noch unbedingt irgendwo hin quetschen wollen. Denn in keinem der anderen Räume werden Serien miteinander gemischt. In den anderen Sälen funktioniert das Entdecken der Inszenierung und persönlichen Individualität von Dijkstras Protagonist:innen deutlich besser, da Besucher:innen durch viel Abstand und das große Format die teilweise akribische Detailliertheit oder die Entwicklung der Protagonist:innen in den Fotografien entdecken können wie in der Serie Family Portraits (2002-heute), in denen Portraits von Geschwistern in zeitlichen Abständen aber im gleichen häuslichen Setting zu sehen sind. Die Möglichkeit, für die Besucher:innen, so eigene Zugänge zu finden, wie es im Ausstellungstext angekündigt wurde, funktioniert. Das Ausstellungshaus könnte an einigen Stellen in den Saaltexten jedoch auf geschlossene Interpretationen verzichten. So entsteht in einigen Räumen dann doch der Eindruck, dass das kuratorische Team den Besucher:innen nicht zutraut, eigene Zugänge zu finden. Bei den Family Portraits steht “Beim Betrachten stellt sich unweigerlich die Frage, was aus den Kindern geworden ist“ und bei der Serie Olivier (2000-2003) hinterfragt die Serie angeblich wie Betrachtende ihre eigene Vorstellung von Identität, Macht und Männlichkeit auf den Protagonisten projizieren. Impulse und offene Fragen in den Texten, die auch in anderen Räumen gut umgesetzt wurden, sind sicherlich hilfreich, um einen leichteren Einstieg in die Themen der Ausstellung zu ermöglichen. Doch die oben beschriebenen Stellen in den Texten erscheinen paradox, wenn man sich den Anspruch der Ausstellung vergegenwärtigt und können Besucher:innen vielleicht sogar frustrieren, wenn sie die Werke nicht auf die gleiche Weise wie das kuratorische Team der Berlinischen Galerie interpretieren. So regen die Texte eher dazu an, dass Besucher:innen sich genötigt fühlen, ihre eigene Interpretation mit denen, die vorgegeben werden, zu vergleichen oder sie führen zu Verunsicherung, wenn andere Assoziationen in den Fotografien geweckt werden, als das kuratorische Team sie vorgibt.

Ausstellungsansicht „Rineke Dijkstra. Still — Moving. Portraits 1992 - 2024“, Berlinische Galerie, © Foto: Roman März


Die Höhepunkte sind die beiden Videoarbeiten I See a Woman Crying und The Buzz Club, Liverpool, UK/Mystery World, Zaandam, NL (1996-1997). Aber auch die Räume, in denen sie gezeigt werden, laden die Besucher:innen zum Verweilen ein. Nicht selten sitzen einzelne Personen oder kleine Gruppen an beiden Seiten auf dem Boden. Der graue Teppich spiegelt die ebenso grauen Uniformen der Schulkinder wieder und auch die beobachtenden Besucher:innen bilden das Pendant zu der Schulgruppe, die auf das nicht sichtbare Picasso-Gemälde blickt. Für The Buzz Club, Liverpool, UK/Mystery World, Zaandam, NL filmte Dijkstra Jugendliche in zwei Clubs in Großbritannien und den Niederlanden in einem Raum neben der Tanzfläche. Auf zwei Screens nebeneinander sieht man hauptsächlich junge Frauen, aber auch ein Paar und Freunde, die oft zuerst schüchtern, manchmal gleichgültig und fast immer Kaugummi kauend in die Kamera blicken. Doch auch wie bei der Schulgruppe fällt die Zurückhaltung irgendwann ab und die Tanzbewegungen werden immer selbstbewusster und ausgelassener. Die Transformation der Protagonist:innen zieht sich aber nicht nur in den Videoarbeiten, sondern auch in allen anderen Serien von Dijkstra durch die Ausstellung. Über ihre Arbeit sagt die Künstlerin: “It is about the interaction between what [the subjects] chose to reveal and what they reveal in spite of themselves. I give them the space to express themselves.“1 Dijkstras Herangehensweise wird beim Schreiten durch die Ausstellung deutlich und sie bietet auch tatsächlich die Möglichkeit, die Ausdrücke der Persönlichkeit ihrer Protagonist:innen in den Arbeiten zu entdecken. Doch wie die Künstlerin es mit den Menschen tut, die sie fotografiert, sollte auch die Berlinische Galerie den Mut haben, ihren Besucher:innen mehr Raum zu geben, sodass sie mithilfe der Texte trotzdem noch ihre eigenen Deutungen und Zugänge finden können.


Pauline Barnhusen absolviert derzeit ihren Bachelor in Kunst- und Bildgeschichte und Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. Als freie Autorin wurden ihre Arbeiten in taz und BLAU International veröffentlicht.


1 Jennifer Blessing, What We Still Feel: Rineke Dijkstra's Video, in: Guggenheim Museum Publications (Hrsg.): Rineke Dijkstra: A Retrospective, Ausst.-Kat. New York, Solomon R. Guggenheim Museum, 29. Juni – 03. Oktober 2012, New York 2021, 33. 

Journal der Freien Universität Berlin

Berlin, 2025