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Claude Cahun – Under the Skin


von Stefanie Unternährer

Claude Cahun: Under Huiden
Brandts Museum, Odense, Denmark
10. Februar23. Juli 2023

Radical daughters of conservative households always present an interesting study. One such example is Lucy Schwob […]. She has broken away from practically every precept of a good French bourgeois family, but the results have been worthwhile.


Golda M. Goldman, Chicago Tribune (Europe), Who‘s Who Abroad, 1929.


Nicht nur im Paris der Surrealist:innen, sondern auch hundert Jahre später gehört Claude Cahun (1894–1954) – bürgerlicher Name Lucy Schwob – zum ‘Who‘s Who’ der Kunstwelt. Ihre Werke, die meist in Zusammenarbeit mit ihrer Lebenspartnerin und Stiefschwester Marcel Moore (1892–1972) entstanden, werden in den letzten Jahrzehnten in etlichen Gruppenschauen zu den 1920er Jahren, zum Thema Queerness und Gender sowie auf internationalen Biennalen als fester Bestandteil des Kunstkanons gefeiert. Einzelausstellungen mit Arbeiten des Duos hingegen gibt es wenige. So präsentiert das Brandts Kunstmuseum im malerischen Odense auf Fünen ihre erste Solo-Schau in Dänemark. Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit dem COBRA Museum of Modern Art im niederländischen Amstelveen und dem Jersey Heritage Trust, betreuende Institution von Cahuns Nachlass. Als einzige institutionelle Retrospektive seit 2011 verspricht die Ausstellung eine bislang unerschlossene Perspektive auf die Arbeiten: Sie soll einen Blick „unter die Haut“ der Werke werfen – so der Ausstellungstitel. Clou des Projekts ist das kuratorische Mittel, welches laut Wandtext die Radikalität der Arbeiten einem zeitgenössischen Publikum näher bringen soll: Die Fotografien sind für die Wanderausstellung – abgesehen von zwei Ausnahmen – bis ins zehnfache vergrößert, als UV-Prints neu abgezogen, auf Dibond Platten gedruckt und in schwarze Stahlrahmen gefasst.


Abb. 1: Ausstellungseingang, Claude Cahun – Under the Skin, Brandts Kunstmuseum, Odense, 2023.


Vielleicht werden die originalen Vintage-Abzüge als hundertjährige Rara aus konservatorischen Gründen vom Jersey Trust nicht über den Ärmelkanal auf Reisen geschickt. Vielleicht aber, so der einleitende Wandtext, bieten die Neuabzüge, welche die technischen Möglichkeiten zu Cahuns Zeit übersteigen, auch die Chance, dem Publikum die Werke mit zeitgenössischen Mitteln näher zu bringen, i. e. sie größer – viel größer – abzudrucken, und somit ihren „oft theatralischen oder persönlichen Charakter hervorzuheben“.1 Das etwa, wie der Titel der Ausstellung schon sagt, um unter die Oberfläche der Bilder, unter ihre Haut schauen zu können und so ihre Radikalität herauszukitzeln. Mit der Absicht herauszufinden, was das Ausstellungskonzept leistet – oder auch nicht – nehme ich diese Überlegung in der Rezension zum Anlass, um die drei für die Ausstellung produzierten Versionen des I am in training, don’t kiss me-Motivs zu besprechen: Die in die Ausstellung einführende Fototapete, einen vergrößerten Kunstdruck und ein Faksimile des Originals (Abb. 1 – Abb. 3).

Da ist sie (Abb. 1). Überlebensgroß trifft Cahuns Blick die Besuchenden herab aus der schwarz-weißen Fototapete der Eingangswand. In einem Strongman-Kostüm des fin de siècle, samt enganliegender kurzer Hose mit hohem Bund, elegant gewachstem Haar und Tätowierungen auf dem hautfarbenen Vollkörperanzug, thront Cahun wie in einem Zirkusartisten-Porträt auf einem Hocker, eine Gewichtshantel auf dem Schoß abgelegt. Die dunklen Herz-Appliqués auf den Wangen weisen auf die geschürzten Lippen und auf die aufgemalten Brustwarzen und das Herz-Tattoo auf dem Oberschenkel. „I am in training, don’t kiss me“ posaunt der Schriftzug auf der stolzen Brust, “CLAUDE CAHUN – Under the skin” schreibt der Titel der Schau auf dem zu Plakatwandgröße aufgeblasenen Bildmotiv. Auf der linken Hantel gemalt ist ein Haus, das einer Kinderzeichnung zum Verwechseln ähnlich sieht. “Totor und Popol” (beide Figuren des belgischen Cartoonisten Hergé) steht in krakeliger Handschrift darüber. Die rechte Hantel schmückt ebenfalls einen Schriftzug, der auf ein weiteres kanonisches Duo verweist: Die Brüder Castor und Pollux aus der griechischen Mythologie, außerdem die hellsten Gestirne im Sternbild der Zwillinge. Ob das ein Hinweis auf die verschweißte Partnerschaft von Cahun und Moore in Leben und Karriere ist? Die Kombination der überlebensgroßen Figur mit souveräner Haltung vor der Kamera und ihrem forschen Blick von oben erweckt im Kontrast zur infantilen Pinselführung und der Warnung auf der Brust „don’t kiss me“ einen trotzigen Eindruck. Aber die Handschrift sieht bloß in diesem Format unsicher aus, denn im Original ist sie nicht größer als ein paar Zentimeter. Das Motiv hat in der extremen Vergrößerung eher etwas Pueriles als etwas Radikales.


Abb. 2: Claude Cahun und Marcel Moore, I am in training, don‘t kiss me, 1927. Claude Cahun – Under the Skin, Brandts Kunstmuseum, Odense, 2023. Installationsansicht.


Die Ausstellung selbst reiht Fotografien und Collagen, geschaffen von 1914 bis 1947, und einige Archivalien in sieben chronologisch gegliederten Abschnitten in die Raumkette des Ausstellungshauses ein. Questioning Identity zeigt frühe (Selbst-)Porträts von Cahun und Moore, Theatrality and Masquerade vereint die bekanntesten Selbstporträts Cahuns, welche im Kontext ihrer Arbeit bei der Theatergruppe Le Plateau entstanden. Network and Privilege beleuchtet ihre Position und ihre Freundschaften im Paris der Surrealist:innen. Surrealism and Politics führt ihre Stillleben und Fotografien von Objektkunst vor. An Invalid Confession (Aveux non Avenus) dreht sich um das gleichnamige autobiografische Buch Cahuns. Jersey präsentiert Fotografien ab 1936 nach der Flucht des Duos auf die Ärmelkanalinsel und das abschließende Kapitel Resistance huldigt ihrer Widerstandsarbeit gegen den Nationalsozialismus auf Jersey.

So hängt I am in training, don’t kiss me von 1927 im Abschnitt Theatrality and Masquerade in seiner zweiten Ausführung in ca. 1,20 m x 1,00 m Größe von einer dunkelgrauen Wand, mit einem Spot beleuchtet die Bildmitte auf 1,50 m als Einzelkunstwerk (Abb. 2). Eigenständig, an einer freistehenden Hängefläche, gestärkt von einer Formation weiterer maskierter Gestalten der Bilder ringsherum, schaut die Figur die Betrachtenden selbstbewusst an – quasi auf Augenhöhe. Da sich Motiv und Besuchende im selben Maßstab bewegen, spiegelt sie die Betrachtenden, ermöglicht es ihnen, sich mit ihr zu identifizieren. Die Grenzen zwischen den Parteien verwischen. Am Spiel des Strongmans mit traditionell feminin und maskulin gelesenen Attributen, mit Schminke und Hanteln, Herzen und Tattoos, nehmen auch die Zuschauenden teil. Die aufgeworfenen Fragen nach sexueller Selbstbestimmung, Identität und Orientierung richten sich an sie. Als dem Publikum gleichgestelltes, autonomes Bild, ist es ein ebenbürtiger Spiegel der Besuchenden. Weiter reflektiert das Bild die Betrachtenden, die Zeit und ihre Auseinandersetzung mit Themen wie Gender, sexuelle Selbstbestimmung und Identität in einer Selbstverständlichkeit, die in Cahuns und Moores Zeiten nicht denkbar gewesen wäre. Denn was 1929 der Chicago Tribune besonders radikal und außergewöhnlich erschien, ist heute angekommen – zumindest in der Bubble des zeitgenössischen Museums. So überschreitet das Großformat nicht nur die technischen Mittel der Zeit Cahuns und Moores, sondern versinnbildlicht gleichsam die gewachsene gesellschaftliche Relevanz der behandelten Themen.

Außerdem tummeln sich über dem Motiv breite Kratzer an der Oberfläche. Andere Abzüge in der Ausstellung zeigen dicke Kreidemarkierungen, riesige Fussel, oder Unschärfen in Form deutlicher Silberkörner. Besonders markant sind auch die halbtransparenten Fotoecken (Abb. 2). Die Vergrößerungen sind offensichtlich nicht von Negativen, sondern von Positiven gemacht worden. So wirkt sich die Transformation nicht nur auf das Bildmotiv aus, sondern ebenfalls auf alles, was sich auf der Oberfläche der Vintage-Abzüge befindet. Wie der Fotograf Thomas, die Hauptfigur in Michelangelo Antoninis Filmklassiker Blow-Up erkannte, scheitert der Versuch, durch Vergrößerung ins Bild eindringen zu wollen, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken, an der Resistenz der Oberfläche. Umso mehr ein Bild vergrößert wird, umso mehr Aufmerksamkeit zieht die Oberfläche des Bildes auf sich, bis zur kompletten Abstraktion. Das Motiv verschwindet hinter Fotoecken, Kratzern und Silberkörnern. Ins Extreme getrieben, bleibt nur ein „fotografisches Rauschen“2 über. Auch im Fall der Cahun-Fotografien ist fraglich, ob die Vergrößerungen dabei unterstützen, unter ihre Haut zu schauen.


Abb. 3: Claude Cahun und Marcel Moore, I am in training, don‘t kiss me (Faksimile), 1927. Claude Cahun – Under the Skin, Brandts Kunstmuseum, Odense, 2023. Installationsansicht.


Im ersten Raum der Ausstellung Questioning Identity ist I am in training, don’t kiss me ein weiteres Mal ausgestellt. Das Faksimile des Originalabzuges in der Größe von ca. 10 cm x 12 cm (Abb. 3) ist klassisch montiert auf weißem Papier, in einem hölzernen Rahmen mit Distanzleisten unter Glas. Es steht auf einem Sockel. Im Gegensatz zur Fototapete und dem Dibond-Abzug, lädt die kleinere Ausführung dazu ein, sich dem Bild physisch anzunähern. Es wirkt wertvoll und fragil, wie eine kleine Kostbarkeit, die geschützt werden will. Das Format spricht den Sinn für Detail und das Fingerspitzengefühl an. Die meisten ihrer Arbeiten schufen Cahun und Moore nicht als Ausstellungsobjekte. Sie waren nicht gerahmt, sondern wurden in Kisten aufbewahrt, die sie mit ihren Freund:innen teilten. Vergleichbar etwa mit den Abzügen der Lifshitz-Sammlung.3 Stellt man sich vor, das Bild in einer Fotobox zu finden, könnte man, um die kleinen Schriftzeichen auf der Brust und den Hanteln lesen zu können, das Bild in die Hände nehmen und es nah ans eigene Gesicht bringen. Sobald der Text leserlich wird, rügt der Strongman dezidiert: „I am in training, don’t kiss me“! Der Schriftzug lockt die Zuschauenden ans Bild heran, doch weist sie sofort auf ihren Platz zurück. Nur die Paare sind aktiver Part der Zirkusnummer, seien es Totor und Popol, Castor und Pollux, oder Cahun und Moore vor und hinter der Kamera. Zwischen Betrachtenden und Bild hingegen öffnet das kleine Format somit einen Raum, welcher ihre Begegnung im Spannungsfeld von Nähe und Distanz, von Darstellen und Verstecken, von Neugierde und Verbotenem schafft. Es provoziert im Gegensatz zum größeren Format nicht unmittelbar die Identifikation der Betrachtenden mit dem Strongman, sondern lädt im entstandenen Freiraum zum Spiel mit ihm ein. Insbesondere weil das kleine Bild im Taschenformat einer Spielkarte ähnelt. Die Herzen auf den Wangen, die Nippel und der gespitzte Mund erinnern an eine Herz-Fünf aus dem traditionell französischen Blatt. Die restlichen 51 Karten liegen vermutlich noch in der imaginären Fotokiste. Oder lädt die Karte etwa dazu ein, das Deck mit radikalen Experimenten zur eigenen Identität selbst zu erweitern?

Wobei aus konservativen Gründen die kuratorische Entscheidung, Neudrucke von Cahuns und Moores Arbeiten zu präsentieren, absolut nachvollziehbar ist, geben die Mittel- und Großformate nicht die erhoffte Einsicht in unerschlossene Ebenen des Werks. Zugespitzt formuliert, bleiben die Betrachtenden bei diesen Exponaten zwischen Fusseln und Fotoecken an der Oberfläche kleben. Denn die Feinheiten der Arbeiten im Kleinformat, in welchem Betrachtende mit einem Spiel mit der eigenen Identität konfrontiert werden, machen erst ihren radikalen Moment aus. Während die Fototapete als Werbemittel am Eingang nachvollziehbar ist, lässt sich an ihr schon vor Betreten der Ausstellung erahnen, dass die Vergrößerung der Werke nicht den versprochenen Blick unter ihre Haut ermöglicht.


Stefanie Unternährer ist Kunsthistorikerin mit den Schwerpunkten Fotografie und Ausstellungsgeschichte. Derzeit absolviert sie ihren Master an der Freien Universität Berlin. Sie veröffentlichte ihre Arbeiten in der Kunstzeitschrift BLAU International, in Die WELT sowie in Ausstellungskatalogen für das Museum Folkwang, die Wüstenrot Stiftung und der Pinault Collection.



1 N. N., Wandtext der Ausstellung CLAUDE CAHUN – Under the Skin, Brandts Kunstmuseum, Odense, 2023.
2 Peter Geimer, “Blow up”, in Der liebe Gott steckt im Detail. Mikrostrukturen des Wissens, eds. Wolfgang Schäffner, Sigrid Weigel und Thomas Macho (München: Brill, 2003), 187–202.
3 Ausstellung: Queerness in Photography. Under Cover. A Secret History of Cross-Dressers. Sébastien Lifshitz Collection, C/O Berlin, 19.09.22–18.01.23.

Journal der Freien Universität Berlin

Berlin, 2024