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Fragile Subjektivität

Zwischenräume des Alltäglichen in Janis Löhrers Erzählwänden


von Swantje Pieper


Janis Löhrer, Grünes Konstrukt, 2021, Tusche auf Papier, 98 x 150 cm.


Auf den überlebensgroßen Leinwänden und Papierarbeiten des Düsseldorfer Künstlers Janis Löhrer spielen sich freche Szenen in einem dichten Neben- und Übereinander ab. Mit Tusche und Feder setzt er an, um persönliche und kecke Geschichten zu erzählen.

In seinen Erzählwänden kombiniert Janis Löhrer unmittelbar und ungeniert die alltäglichen Erlebnisse seiner Augen und seines Geistes und öffnet damit Zwischenbereiche des Alltäglichen. Auf den großformatigen Zeichnungen entstehen Spielräume für Empfindsamkeit, Heiterkeit, für marginale Existenzen, Nebensächliches und für Ungewissheiten – Lücken innerhalb eines zusammenhängenden Ganzen, des Alltags.

Das Interview mit Janis Löhrer ist eine Nahaufnahme von ebendiesen oftmals übersehenen oder mit geringer Aufmerksamkeit bedachten Momenten, von seinen Routinen im Atelier und dem Besonderen im Alltag – den größeren Projekten.



ZWISCHEN KONVENTION UND PROVOKATION

Swantje Pieper: Deine aktuellen Arbeiten sind zumeist Tuschezeichnungen auf Papier oder Leinwand. Im Laufe deiner künstlerischen Aktivität hast du dich von flächiger und farbintensiverer Leinwandmalerei in Richtung zarter Linien und erzählender Zeichnungen bewegt. Verstehst du dich als Zeichner oder Maler?

Janis Löhrer: Im Englischen mache ich Drawing-Paintings, auf Deutsch „Zeichnungsmalerei”. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass ich mich zu einem Zwischenbereich hingezogen fühle, dass ich Zwischenbereiche im Privaten wie im Arbeiten akzeptiere. Das hat mir Kraft gegeben, mich von der Entscheidung zwischen Malerei und Zeichnung zu lösen. Ich suche nach einer Möglichkeit, die Naht zwischen beidem enger zu knüpfen.

SP: Welche Themen reizen und inspirieren dich in deinem künstlerischen Schaffen?

JL: Meine Arbeit bringt mich zurzeit immer wieder in Berührung mit Themen von Scham, Albernheit, Identität und Männlichkeit sowie Sexualität und Emotionalität. Ich spüre ein gewisses Faible für Situationen, in denen ich mich ertappt fühle. Wenn ich meinen Einkauf aufs Fließband lege, befällt mich eine Form von Scham. Eine Art von Privatsphäre tritt in Erscheinung, aus der ich Ideen schöpfe. Dabei interessieren mich sowohl die Gegenstände selbst und ihre ‚Komposition’ auf dem Fließband als auch die Befreiung von den Konventionen der Scham.

SP: Stichwort Konventionen: In deinen Werken sind häufig Menschen zu erkennen, die alltäglichen Beschäftigungen nachgehen, wie der Toilette, dem Zähneputzen, dem Müsliessen, der Computerarbeit oder dem Lesen. Deine Figuren werden vielfach in Situationen dargestellt, zum Beispiel ohne Hose, in denen sie einer gewissen Norm von Ordnung oder Schönheit zuwiderlaufen. Außerdem offenbaren deine Bilder eine Vorliebe für Mücken und Ratten, die ja oft als lästig gelten. Wie alltäglich ist für dich das ‚Hässliche’ und ‚Abstoßende’, das ‚Schöne’ und ‚Saubere’?

JL: Im Alltag finde ich mich wiederholt mit ähnlichen Situationen und mit denselben Gegenständen konfrontiert, was die Fantasie anregt. Damit die Routinen nicht langweilig werden, spinne ich diese in Gedanken gerne weiter: das immer gleiche Spiegelbild beim Zähneputzen – was kann eine Zahnbürste noch sein? Ein Blick ins Müsli am Morgen; das Eigenleben meines Schreibtisches zwischen Tastatur, Maus und Bildschirm – da passiert so einiges.

Die Viecher in meinem Umfeld fallen mir manches Mal ins Auge. Sie gehören für mich dazu, haben ihren Platz in unserer Welt. Darf eine Mücke süß sein, ihr surrender Klang harmonisch und ein Stich ein Küsschen?

Einige Figuren tauchen in meinen Arbeiten immer wieder auf, wie eben der Mann unten ohne’, der in der Zeichnung mit allen möglichen Situationen konfrontiert wird, wovon viele aus meinem direkt erlebten Alltag stammen. Wie ein Allrounder findet er in vielen Situationen seinen Einsatz.


Janis Löhrer, Ratte, Condom, 2020, Tusche auf Papier, 30 x 30 cm.


SP: Provozierst du damit gezielt?

JL: An sich empfinde ich Bilder als harmlos gegenüber der Realität. Dennoch glaube ich, dass ihnen eine Form von Subjektivität zuteilwird, die als provokant wahrgenommen werden kann. Meine zeichnerische Malerei hat viele Spitzen, Ecken und Kanten, an denen Menschen sich aufhängen können. Die Subjektivität und das Persönliche ermöglichen es, Gefallen und Missfallen zu finden und dass Menschen sich wiederentdecken; es schafft Anknüpfmomente.

Natürlich werden auch die Themen, mit denen ich arbeite – Scham, Humor, Ekel – als provokant wahrgenommen. Aber für mich ist es eben wichtig, auch einen Raum für heikle Angelegenheiten zu bieten: den Raum zu öffnen für Sensibilität, Emotionalität und Humor. Ich selbst lebe mich gern als Softie.

HUMOR IN UNSTIMMIGKEITEN UND UNGEWISSHEITEN

SP: Bei der Betrachtung einzelner Szenen im Werkganzen muss ich immer wieder schmunzeln. Welchen Stellenwert hat Humor für dich? Wie spontan entwickeln sich die vielen kleinen Geschichten innerhalb einer Arbeit?

JL: Spontanität katapultiert mich in den Ist-Zustand des Bildes, ins Machen. Humor schafft es, aus einem teilweise anstrengenden Malprozess etwas Leichtes und Witziges entstehen zu lassen. Auch wenn ich mir für die Leinwände mitunter den Rücken krumm male und die Knie kaputt mache, ist das für die Betrachtenden nicht zu sehen, weil sie eher auf den Humor in den Bildern reagieren – das ist für mich das Größte. Meine Werke sollen leicht und zugänglich sein. Für mich ist der Humor intuitiv.

SP: Die Darstellung der einzelnen Gegenstände hat nicht den Charakter einer naturalistischen, mimetischen Abbildung, sondern erscheint mutmaßend wie zum Beispiel im Aufbau von Musikinstrumenten. Welche Bedeutung haben diese absichtlichen ‚Unstimmigkeiten’?

JL: In der ‚Unstimmigkeit’ des Handgezeichneten sehe ich großes Potenzial. Vor kurzem habe ich einen Flügel gezeichnet und den Klappdeckel falsch herum aufs Instrument gesetzt. Ein Pianist hat das sofort gesehen und mich darauf aufmerksam gemacht und mich meiner Unwissenheit belehrt. Dadurch, dass ich diese Ungewissheiten mitzeichne, gelingt es den Bildern, Nähe zu Menschen aufzubauen, die sich von der Irritation angezogen fühlen. Diese Unsicherheiten zu zeichnen, ist wichtig für mich als etwas Menschliches und Sensibles. In der Sekunde, in der ich zeichne, weiß ich es nicht besser und gestehe, dass das Gezeichnete unrecherchiert und ungefiltert ist.

SP: Der rohe, ungefilterte Ausdruck ist etwas Mutiges in unserer oft korrekturbewussten und nach Perfektion strebenden Leistungsgesellschaft. Setzt du die Imperfektion in deinen Bildern dieser bewusst entgegen?

JL: Ich bin mir nicht immer klar darüber, ob meine Ideen den Bildern dienlich sind oder nicht. Das offenbart sich meistens erst im Arbeitsprozess. Das Zeichnen hat mir gezeigt, dass nicht alles von vornherein stimmen muss, dass auch die Fehler wichtig sind und neue Möglichkeiten eröffnen. Ich bringe zu Papier, was ich habe.

ABZEICHNUNGEN DES ALLTÄGLICHEN

SP: Es klingt so, als hättest du ein Sammelsurium an Motiven. Auf welche Weise lässt du deinen Alltag in die Bilder einfließen?

JL: Ganz einfach gesagt: Oftmals verwende ich direkt das, was ich auf dem Weg zum Atelier mitbekomme oder sehe, oft sind es andere Menschen, die ich im Vorbeilaufen beobachte. Ich nehme mir etwas von der Straße mit – zum Beispiel eine Geste von einem Kaffee in der Hand und einer Zigarette, die dazwischen steckt. Eine Grundidee von der Straße mit ins Atelier zu nehmen, bedeutet, eine Karte zu haben, die im Atelier ausgespielt werden kann.

Ich habe immer ein kleines Buch zum Zeichnen dabei – das gehört für mich dazu, wenn ich auf Reisen bin. Das Auge wird auch immer eingepackt. Die Beobachtungen, die ich in Notizbüchern festhalte, liefern mir zu einem späteren Zeitpunkt einen Grund zum Arbeiten. Letzten Endes entwickeln sich die meisten Arbeiten in eigenständige, organische Bilder; nur mit irgendetwas muss eben angefangen werden.


Janis Löhrer, Ei, Plattenspieler, 2020, Tusche auf Papier, 21 x 30 cm.


SP: Flugzeuge, Mäuse und Plattenspieler lassen sich in der Praxis selten gemeinsam antreffen. Wie bringst du all diese Elemente auf der Bildfläche zusammen?

JL: Ich reagiere auf die Motive, indem ich mit ihrem Angebot an Formen spiele und sie auf der Bildfläche miteinander tanzen lasse. Formal arbeite ich zudem mit dem Prinzip der Linie, um Sachen zu verknüpfen, zu durchkreuzen und zu überlagern.

Als ich mit Ölfarben zu arbeiten begann, experimentierte ich viel mit den Farben und übermalte meine Werke ständig. Früher hatte ich eine Fantasie davon, dass jemand mit Röntgenblick die übermalten Motive unter der zentimeterdicken Farbschicht der neuen Motive erkennen könnte. Später haben sich die leichten, mit Tusche gezeichneten Räume entwickelt, wie sie heute auf den Leinwänden zu finden sind. An die Stelle des ehemalig für meine Arbeit wesentlichen Prinzips des Übermalens tritt nun ein Prinzip der linearen Überlagerung.

SP: Du spielst mit Räumlichkeit, indem du die tatsächlichen Größen der Objekte und Figuren in deinen Bildern veränderst, wodurch diese neuartig interagieren. Neben der eigensinnigen Räumlichkeit, welche Zeitlichkeit herrscht im Bild vor?

JL: Ich habe den Hang dazu, Objekte zu zeichnen, die ein wenig aus der Zeit gefallen sind. Alte Flugzeuge, Tastaturen, Computermäuse und die Lichtbrechung auf der Oberfläche von CDs finde ich spannend – alles Dinge, die es schon länger gibt und die mittlerweile fragwürdig werden. Wahrscheinlich sind diese aus der Zeit gefallenen Elemente Versatzstücke aus der Vergangenheit, auf die Menschen unterschiedlichen Alters sich völlig anders beziehen können. Für einige Personen ist die CD noch immer das Medium, wiederum andere junge Menschen haben noch nie eine CD gekauft.

Zudem möchte ich eine Form von Gleichzeitigkeit stattfinden lassen: den Raum öffnen, um zugleich unter den Tisch und ins Universum zu schauen.

SP: Im Entstehungsprozess spannst du die lose Leinwand erst auf den Rahmen auf, nachdem du sie auf dem Boden bearbeitet hast. Welche Veränderung nimmst du in der Bewegung der Leinwand aus der Horizontalen in die Vertikale wahr? Inwiefern bestimmt deine Körperlichkeit das Bild selbst?

JL: Ich bearbeite die abgespannten Leinwände auf dem Boden liegend, um Distanz zu verlieren, um Übersicht und Kontrolle abzugeben. Meine Körperlichkeit übersetzt sich direkt in der Linienführung und wird seismographisch festgehalten. Der Arm lässt jedes körperliche Beben bis in die Linie durch.

In dem Moment, in dem ich die bearbeitete Leinwand wieder auf den Keilrahmen aufspanne, habe ich das erste Mal die Chance, die Komposition aus der Distanz wahrzunehmen. Wenn ich die Leinwand in die Vertikale bringe, beschäftige ich mich damit, die Einzelelemente in eine Balance zu bringen und das Bild als Ganzes zu sehen.

SP: Viele deiner großformatigen Werke sind in Graustufen gehalten, andere Arbeiten monochrom in Grün oder Blau, wiederum andere sind lasierend koloriert, haben dominante Farbflächen (Tool party, 2021) oder nennen im Titel die vorherrschende Farbe (Grünes Konstrukt, 2021). Welchen Ausdruck sprichst du der Farbwahl zu?

JL: Mit der Farbe reagiere ich spontan auf ein Gefühl und wiederum kann die Farbe Gefühle transportieren. Dennoch fühle ich mich immer wieder dazu hingezogen, in Schwarzweiß zu arbeiten und meinem Wunsch nach Farbe eine Diät zu verpassen. Schwarzweiß lässt die Arbeiten näher rücken an eine Lesart, die der von Schrift nahesteht. Diese Lesart kann sich durch den Auftrag von Farbe schnell verlieren, denn Farbe allein schafft schon Bedeutungsebenen. Aber wenn ich nur mit Schwarz arbeite, gibt es weniger Ausflüchte. Schwarzweiß bedeutet auch: trocken und sachlich, Klartext.

DAS BESONDERE IM ALLTAG:
DAS KÜNSTLERBUCH SOCKS BETWEEN THE SHEETS


SP: Im Mai ist dein Künstlerbuch Socks between the sheets (2021) erschienen, das schon im Titel auf die zuvor angesprochenen ‚Zwischenbereiche’ verweist. Im Buch versammeln sich Zeichnungen, Kritzeleien und Zettel aus deinem Arbeitsprozess und es gibt damit bisher Ungesehenes dem öffentlichen Blick frei. Neben dem Bildmaterial enthält es auch eine doppelseitige Sammlung von „Gedanken zu Poesie, Titeln und Form“. Was hat es mit der Notizsammlung auf sich?

JL: Auf dieser Doppelseite habe ich Raum gelassen für Wortfindungen, die ich auf meine Bilder beziehe. Sie entstammen Diskussionen, die ich im Alltag mitbekomme. Mir gefällt es, Wörter ad absurdum zu führen, durch ihre Kombination Neues entstehen zu lassen und dies mitunter in Titeln festzuhalten.


Janis Löhrer, Socks between the sheets, 2021, Künstlerbuch.


SP: Gibt es eine Wortgruppe, die dir spontan am Herzen liegt?

JL: Ein Beispiel aus der Sammlung ist ‚Sweet Spot’ als ein Begriff, den alle möglichen Leute verwenden, die in verschiedenen Bereichen arbeiten. Nicht zu viel vorwegzunehmen, Raum für die Assoziationen der Betrachter:innen zu lassen – das ist der Sweet Spot für mich. Der Sweet Spot ist, wo Unfertiges und Fertiges sich treffen.


Porträt im Atelier in Düsseldorf, 2021, Foto: Veronika Vassilakou.



Janis Löhrer (*1991) gründete als Teil eines fünfköpfigen Künstler:innenkollektivs kürzlich den AURA Kunstraum in der Birkenstraße 67 in Düsseldorf. Als Ausstellungs-Plattform für junge Künstler:innen soll sich der Offspace langfristig etablieren. Im September wurde er mit einer Gruppenausstellung eröffnet und im Dezember folgt die Einzelausstellung “Between you and me” von Janis Löhrer.
Swantje Pieper studierte Kunstgeschichte und Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin, wo sie derzeit ihren Master in Kunstgeschichte im globalen Kontext mit dem Schwerpunkt Europa und Amerika abschließt. Ihr gegenwärtiger akademischer Fokus liegt auf der Synthese von Literatur und Philosophie mit moderner und zeitgenössischer Kunst.





Journal der Freien Universität Berlin

Berlin, 2024