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I wie I-Cursor
von Katharina Mludek
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig – etwas schneller leuchtet der vertikale, schmale Strich auf weißem Grund auf. Mein Blick wird leer und ich starre die Linie an. Diese Monotonie erinnert mich an den wandernden Sekundenzeiger einer Uhr: Tick, Tack, Tick, Tack...
I-Cursor nennt sich das kleine blinkende Etwas, welches ich sehe, während ich diesen Text schreibe. Denke ich nach, verweilt er auf der Stelle. Tippe ich ein paar Worte, läuft er vor diesen weg. Das regelmäßige Aufleuchten gibt ein Gefühl von Zeitlichkeit – Vergänglichkeit. Er ist ein Appell in meinen Ohren: „Schreibe endlich etwas! Konzentriere dich!“ Der I-Cursor erinnert mich in jedem Moment an eine Deadline, die es einzuhalten gilt.
„,Am Anfang war das Schreibwerkzeug‘ – so könnte ein wiederkehrendes filmisches Narratem lauten.“1 Sven Grampp, Medien- und Theaterwissenschaftler, greift mit seiner These auf, dass bisweilen der Beginn von populären Spielfilmen mit einer mit einer auf Papier oder einer Schreibmaschine schreibenden Hauptfigur eingeleitet wird. Eine Stimme aus dem Off begleitet die Szene und führt die Zuschauenden in die Geschichte ein. Das illustrierte „The End“ rundet die erzählerische Klammer ab und erinnert an die typische Phrase im Märchen: „Wenn sie nicht gestorben sind...“2 Grampp geht in seinem Traktat weder auf das Schreiben an einem Texteditor noch auf den blinkenden I-Cursor als filmisches Mittel ein. Zu unpassend für sein Schreibwerkzeugdispositiv? Mir erscheint es wie eine Lücke in seiner Trias – Pinsel, Feder und Schreibmaschine – zu sein. Die ersten Sekunden des Films Matrix illustrieren das Motiv des I-Cursors eindrücklich: getippte giftgrüne Schrift eines Programmierskripts auf schwarzem Grund und allen voran ein aufleuchtendes grünes Quadrat. Ein Intro, welches bewusst die Ungeduld der Betrachtenden schürt und zugleich den Beginn von etwas Neuem einleitet.
Das Ausblenden des digitalen Werkzeugs in Grampps Analyse „Schreibwerkzeuge im Film“ scheint kein Einzelfall zu sein. Der I-Cursor, auch Blinking Cursor betitelt, ist in den Untersuchungen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen – Film-, Medien-, Kommunikations-, Design- oder Kulturwissenschaften – ein blinder Fleck. Zu subtil, zu unscheinbar, zu selbstverständlich schmiegt er sich in den Alltag oder die Lücke zweier Wörter. Dabei birgt er vergleichbares Analysepotenzial wie der Türgriff3 oder Henkel4, sowohl in Form, Funktion und Medialität.
Ich kontaktiere Freund:innen, die sich mit der Produktion von Text und Gestaltung beschäftigen. Schenken sie dem digitalen Werkzeug während ihrer Arbeit Beachtung? Ihre Antworten werfen weitere Fragen auf. Kaum jemand erwähnt die reine Funktion, die das Werkzeug auf der digitalen Oberfläche einnimmt wie einfügen, löschen oder die Möglichkeit, an anderer Stelle weiterzuschreiben. Die frei assoziierten Reaktionen decken sich hingegen stark mit meinen einleitenden Gedanken: „Ich soll schreiben.“, „Ich muss schreiben.“, „Ich fühle mich unter Druck gesetzt.“, „Stress“, „unerbittlich“, „Die Linie ist ungeduldig.“ Dabei fällt auf, dass der I-Cursor auf emotionale Weise als Druckwerkzeug wahrgenommen wird. Ist diese Funktion Teil der Identität des kleinen Strichs?
Die Korrelation von zwei Umständen lenkte meinen Blick auf die kleine Erscheinung: In einem Podcast versuchte mein Studienjahrgang 2020, die designwissenschaftliche Disziplin einfach und verständlich zu vermitteln. Zu diesem Zweck analysierten wir kleine Objekte wie einen Salzstreuer, eine Nylonstrumpfhose, den Drahtverschluss von Brottüten oder den I-Cursor. Die in der Designgeschichte zumeist marginalisierten, jedoch jeder Person bekannten Untersuchungsgegenstände werfen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet ebenso politische, gesellschaftskritische und funktions- und materialorientierte Fragen auf wie der Eames Lounge Chair oder die Zitronenpresse Juicy Salif von Philippe Starck.5 Zur selben Zeit beschäftigte ich mich in einem Seminar mit Schriftgeschichte und im Speziellen mit den ersten digitalen Typografien. Diese sogenannten System Fonts sind festinstallierter Bestandteil eines jeglichen Betriebssystems wie Apple macOS oder Microsoft Windows. Ihre Namen und ihr Aussehen sind beim Nutzen von Texteditoren wohlbekannt: Helvetica, Tahoma, Arial oder Comic Sans. Die in den 1950er Jahren entwickelten und vorrangig serifenlosen Schriftarten sollen im Gegensatz zu ihren analogen Schwestern mit kleinen Ausläufern nicht gedruckt, sondern auf dem Bildschirm gut lesbar sein.6 Nach der Erfindung des Buchdrucks 1440 steht das Aufkommen von System Fonts im Zusammenhang mit der wohl wesentlichsten Zäsur der Schrift- und Typografiegeschichte: die Entwicklung von Computertechnologien und das Aufkommen des Internets zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dies veränderte nicht nur den Schreibprozess, sondern zugleich einen gesamten Industriezweig, der sich auf Schriftsetzen, Fotoentwicklung und Druck spezialisiert hatte: „By the 1990s digital technology enabled one person operating a desktop computer to control most – or even all – of these functions.”7 Dass der Entwurf, die Schriftentwicklung und Druckproduktion in der Hand eines:r Designschaffenden liegt, ist heute schon Selbstverständlichkeit.
Während sich meine Kommiliton:innen – vorrangig Kommunikationsdesigner:innen – darauf konzentrierten, eine Renaissance vermeintlich altbackener Schriftschnitte einzuleiten oder liebevoll die pixelige Auflösung erster Apple Computer zu reanimieren, schwelgte ich in Kindheitserinnerungen. Ich versetze mich zurück in die Zeit meiner naiven Annäherungen an den Computer: Das erste Mal Word Art oder die Sprühdose bei Paint benutzen und immer wieder die nervige Büroklammer zu ignorieren, die unermüdlich versuchte, das Programm zu erklären. Diese Erinnerungen lenken meinen Blick erneut auf elementare Handlungen wie die Bedienung der Maus (Linksklick, Rechtsklick, Doppelklick) oder das nachträgliche Verändern, Löschen und Einfügen von Text. Kein unschöner Tintenlöscher oder mit dem Lineal durchgestrichene Worte prangern mehr auf dem Papier, um meine Rechtschreibfehler auszugleichen. Am Ende meines Schaffens steht nun ein makellos schwarzer Text auf weißem Grund. Kein Fehler, keine verbesserte Formulierung, kein verworfener Gedankengang ist mehr sichtbar: der I-Cursor als mein Zauberstab.
Mit einem Mal sehe ich ihn pausenlos: Word, WhatsApp, Google, Instagram, InDesign. Allein die Nutzung von 40 I-Cursorn dokumentiere und sammle ich an einem Tag. Daraus entstand meine Videoinstallation einer im Raster angelegten Armee von blinkenden Strichen. Die überbordende Masse dient als mein Appell, dem kleinen, in der Wissenschaft und in der alltäglichen Nutzung wenig geschätzten Tool Respekt zu zollen. Diesem Anliegen folgend, richte ich in diesem Essay den Blick auf die Designgeschichte des I-Cursor und den größeren Zusammenhang der Interfacegestaltung. Mithilfe des Kontexts analysiere ich im zweiten Teil die Beziehung von Mensch und Maschine: Denn auch wenn die kleine Linie unscheinbar erscheint, erfährt sie einen Bedeutungswandel vom Werkzeug zum Appell zur Arbeit.
I wie interface
Um das Wirken und die Wandlung des I-Cursors zu verstehen, lohnt ein rückwärts gerichteter Blick. Die Historie zu recherchieren, stellte mich durch die dürftige Quellenlage vor eine Herausforderung. Die Rolle und Erfindung der Computermaus, repräsentiert durch den ikonischen Pfeil auf dem Desktop, läuft der Randfigur, dem I-Cursor, den Rang ab. Ebenfalls unter dem Namen Cursor bekannt, überschattet die Maus jegliche Recherche. Seit 2019 widmet sich ihr sogar eine jährlich digital ausgerichtete Konferenz mit dem Titel “The Computer Mouse Conference“.8
Der nach links gekippte Pfeil, die Sanduhr, der Papiermülleimer, die Ordnerstruktur – die visuelle Kultur des Interfaces ist geprägt von der sogenannten Desktop-Metapher und somit Referenzen aus der analogen Welt. Werkzeuge in Photoshop sind ein wahrer Fundus solcher Analogien: die Maske, das Pinselwerkzeug, Abwedeln oder Zuschneiden. Die Tätigkeit in der Dunkelkammer zur Entwicklung von Fotos gehört zwar der Vergangenheit an, dennoch haben sich die damals gebräuchlichen Bezeichnungen und die Symbolik langfristig durchgesetzt. Dieser Methodik der Symbolik folgend, recherchierte ich nach der assoziativen Verbindung, um die Quelle der Entstehung herzuleiten: dem „realen“ I-Cursor.
Einen Hinweis für diesen vermute ich in der ersten Entwicklungsphase von privaten Computern in den 1980ern. Am Xerox PARC – der Erfinder:innenschmiede des modernen Interfaces und der ersten Texteditoren – wurde die intime Beziehung zwischen Mensch und Computer maßgeblich gestaltet. Vorrangiges Ziel ist die Ermächtigung emphatisch verstandener User:innen, welche durch die Kopplung mit dem Computer mehr und anderes kreativ hervorbringen und leisten können als je zuvor.9 Alan Kay, Leiter der Forschungsgruppe, legte seine Vision von der Zusammenarbeit mit zukünftigen Computern medienpädagogisch aus. Für ihn sollten Kinder von Grund auf in Partnerschaft mit der Technik zu künstlerischen und problemlösungsorientierten Ansätzen angehalten werden. Joseph Lickliders Ausdruck der „man-computer-symbiosis“10 beschreibt die angestrebte Nähe sehr prägnant. Die Ästhetik und die digitale Umgebung nehmen dabei eine entscheidende Rolle ein, da sie die User:innen anleiten und „für die erfolgreiche Durchführung von Aufgaben“11 belohnen. Eine spielerische Heranführung, learning by doing, ist das Ziel. Dabei steht weniger Effizienz als die Verständlichkeit und Akzeptanz12 im Vordergrund – einer der Gründe, warum insbesondere auf die Desktop-Metapher gesetzt wurde: „Bunte icons laden zum Drag & Drop ein, [...] der digitale Schreibtisch lockt mit freundlichen Farben und animierten Bildschirmschonern, zum Löschen von Dateien werden diese in einen symbolischen Papierkorb geworfen.“13 Die heute geläufige Strategie der Gamification, auch Spielifizierung genannt, ließe sich mit diesem Ansatz vergleichen. Dieses auch kritisch zu betrachtende Konzept beschreibt die Steigerung von Motivation und Bindung von Nutzer:innen an eine App oder Webseite durch Belohnungssysteme wie Erfahrungspunkte und Ladebalken – Mittel, welche nicht nur die Glücksspielindustrie gewinnbringend einzusetzen weiß. Die Interfacegestaltungen des Xerox PARC sollten vor diesem Hintergrund jedoch tiefgreifender angesetzt werden: Hierbei ging es um nichts geringeres, als erstmalig eine Generation flächendeckend an den Computer heranzuführen.
Das Manual des Bravo, dem ersten WYSIWYG-Editor14– ebenfalls ein Produkt des Xerox PARC – wurde 1980 von Suzan Jerome liebevoll für Erstnutzer:innen geschrieben: „A second way to control the system is by using a pointing device called the ‚mouse‘. The small white box, usually placed to the right of the keyboard, is the mouse. It connects to an arrow (cursor) on the screen and allows you to point at (select) the block of text to be altered or expanded.”15 Über 120 Seiten unterbreiten eine Anleitung für die Nutzung des Bravo. Es ist belustigend und ermüdend zugleich, über Handlungen zu lesen, die sogenannte Digital Natives heute im Schlaf ausführen. Die ersten Editoren wurden vorrangig über tastaturbasierte Kommandos gesteuert: Ein eingetipptes „d“ löscht ausgewählten Text (delete), mit einem „i“ wird Text eingefügt (insert). Jerome erwähnt ebenfalls ein blinkendes Caret (^-Zeichen ) als navigierendes Element, das in Kombination mit dem Befehl (i) als Vorläufer des I-Cursors gesehen werden kann.16 Nur am Rande sei erwähnt, dass dieses Steuerungszeichen ein Relikt aus Zeiten der Telegrammgeräte und Fernschreiber ist. So stand etwa die Kombination „^C“ für den Befehl, dass das Ende einer Nachricht erreicht ist – wie eine zweite Sprache neben der eigentlichen textlichen Information: ein Befehl. Noch heute befindet sich das kleine Dach teilweise auf der control-Taste (Steuerungstaste) der MacBook-Tastatur.
Die Erläuterung von Jerome zum Einfügen von Text lässt folglich darauf schließen, dass der I-Cursor schlicht und ergreifend auf das Wort insert zurückzuführen ist. Doch nicht das Stöbern von Benutzer:innenhandbüchern, sondern der Begriff Cursor17 gab im weiteren Verlauf der Recherche einen entscheidenden Hinweis. Diese Bezeichnung ist im englischsprachigen Raum für den Läufer auf einem Rechenschieber geläufig. Gemeint ist damit nicht der bunte Abakus, mit dem manches Kind spielerisch erste Multiplikationen lernt, sondern jener, der wie ein Zwitter aus einem Plastiklineal und Messschieber anmutet. Auf dem beweglichen Teil des Geräts, dem Schieber (Cursor), ist eine feine vertikale Linie zum Ablesen des Rechenergebnisses gedruckt, welche oben und unten von zwei schwarzen horizontalen Balken eingerahmt wird. Dieses Tool gleicht der uns bekannte Form des I-Cursors: das große I mit Serifen. Der mathematische Einsatz des Utensils für militärische Berechnungen in der Luftfahrt unterstreicht die Theorie der Desktop-Metapher als visueller Analogie. Die sogenannten mainframe computer – erste Großrechenanlagen in Forschungseinrichtungen der 1950er Jahre – wurden vorwiegend für die militärische Nutzung oder als mathematische Rechner verwendet.18 Mein Verständnis ist, dass hier eine symbolische Übertragung des Schiebers auf das Interface entstand. So wie der Strich genau auf dem Rechenschieber ausgerichtet wird, kann der I-Cursor ebenso genau eine Position zwischen zwei Zeichen finden. Die zuvor dargelegte pädagogisch-lernorientierte Argumentation würde sich in diesem Fall nur auf jenen Personenkreis beschränken, welcher zum damaligen Zeitpunkt in der Luftfahrt tätig war. Dies würde die für uns heute weitgehend unbekannte Symbolik erklären.
Durch meinen Recherchefokus auf die Form der Linie vernachlässigte ich anfänglich eine weitere Qualität des Strichs, seine navigierende Funktion durch das Blinken, die mich zum eigentlichen Entwickler leitete. Auf funktionaler Ebene wurde der Blinking Cursor von Charles Allan Kiesling in den USA erfunden, der diesen 1969 patentierte.19 Als Soldat der Navy war er für Sperry Rand tätig, einer ehemals US-amerikanischen Firma, die Computersysteme für das Militär entwickelte und produzierte. Kiesling programmierte die erwähnten mainframe computer. Die raumfüllenden Rechner waren im Endstadium ihrer Genese über ein Kontrolldisplay und nicht mehr durch die Eingabe von Lochkarten steuerbar. Ein Zeitpunkt, der als Geburtsstunde des Interfaces verstanden werden kann: „The console not only increased a programmer’s productivity, it also offered the world a new perspective and relationship to computing that would go on to inspire future generations.“20 Die Navigation und Orientierung der Programmierenden, welche bis dato keinen erkennbaren Indikator ihrer Eingabe auf dem Display besaßen, stand im Mittelpunkt von Kieslings Erfindung des horizontalen Liniensegments – zeitweise auch vertikal oder als heller Punkt dargestellt. Das abwechselnde Blinken des Cursors und eines Textzeichens machten die Position auf dem Interface kenntlich. Eine für das Auge angenehmen Frequenz musste durch die rasche Entwicklung von Displays immer wieder nachjustiert werden.
In einem User Experience-Forum schreibt ein angeblicher Nachkomme Kieslings einen Tag nach seinem Tod 2014:
He was my father and he did indeed write the code for the blinking cursor when he worked at Sperry. He passed away yesterday in Minneapolis at the age of 83. I remember him telling me the reason behind the blinking courser [sic!] and it was simple. It was not because it looked like an ‘I’. He said there was nothing on the screen to let you know where the courser [sic!] was in the first place.21
Diese Aussage unterstützt die These, dass primär das Blinken und Navigieren im Vordergrund der Entwicklung stand und weniger das nachträgliche Verändern von Text. Eine Qualität, die, wie im Manual beschrieben, erst im Nachhinein so artikuliert wurde.
I wie Ich
Die bisherige designgeschichtliche Annäherung konzentrierte sich vorrangig auf die Form und Funktion des I-Cursors. Ein Herauszoomen aus dieser Kleinstinteraktion (Mensch und I-Cursor) und die Betrachtung in einem größeren Kontext kann helfen, ihn als Medium noch besser zu verstehen.
Der Medienwissenschaftler Timo Kaerlein untersucht Interfaces und Nahkörpertechnologien. Er beschreibt den Wandel der Bedeutung des intimate computing. Dabei beurteilt er die zuvor dargelegten Visionen der Ermächtigung von User:innen im Xerox PARC als durchaus positiv. Kay führte den Begriff der Intimität in diesem Kontext ein und meint damit Mittel wie die Desktop-Metapher, welche „die Denkprozesse des Anwenders in enger Relation zu den Affordanzen des Mediums Computer entwickeln.“22
Dem gegenüber stellt Kaerlein die besorgniserregende Handlungsmacht der Technologie, mit der wir uns heute tagtäglich umgeben: Die menschliche, beinahe libidinöse Beziehung zu ihr sei „an der der Rationalisierung und Ökonomisierung von Freizeit wie Beruf beteiligt.“23 Die Bedeutung des Begriffs von Intimität verändert sich somit vom Kontext der Ermächtigung zu Körpernähe und Privatheit.
Um diese Bedeutungsverschiebung besser zu verstehen, verweist der Autor auf das ebenfalls am Xerox PARC entwickelte Konzept des ubiquitous computing. Dieses beschreibt das Ziel, dass Computer hintergründig und von der menschlichen Wahrnehmung getrennt arbeiten. So wird am PARC Technologie in die wohnliche Gestaltung von Möbeln eingebettet. Ein Ansatz, welcher als Vorläufer von Smart Homes gilt. Ähnliche Ambitionen sind am heutigen Beispiel sogenannter Wearables erkennbar wie der Apple Watch, die sich als Uhr tarnt und zugleich mit ihrer Nähe zum Körper eine neue Form des intimate computings einleitet.24 So werden bisher private Informationen gesammelt und für ein kapitalistisches System brauchbar gemacht.
Im Mittelpunkt von Kaerleins Analyse steht das Smartphone. Ansätze seines Theoriekonstrukts lassen sich jedoch auch auf eine generelle Mensch-Computer-Interaktion (HCI) beziehen. Es mag ein weiter Bogen vom I-Cursor zum iPhone sein, dennoch geben beide mit ihren Funktionen den Denkrahmen vor – wie wir arbeiten, was wir preisgeben oder wie wir digital Text produzieren: „Das Interface markiert hier nicht lediglich eine Schwelle oder Grenzfläche zwischen zwei oder mehr vorab definierten Entitäten, sondern es ist aktiv an der Konstitution dessen beteiligt, was respektive unter dem Computer als Medium bzw. dem menschlichen Anwender als User[:in] verstanden wird.“25 Ähnlich verhält es sich mit der Tür, welche als Medium der Architektur ein Innen und Außen manifestiert. Die Grenze von beidem zu durchschreiten, erfordert einen Türgriff, der mit dem I-Cursor als Werkzeug für den Übergang vergleichbar ist. Die digitale Architektur, das Interface, schafft die Bühne und den Rahmen, auf dem sich vorgegebene Handlungen abspielen können und nur bedingt die Rolle von Computer und Nutzenden. Dabei gibt es die Grenzen des Machbaren vor und eröffnet Tools, die Optionen bereithalten, über die User:innen im Vorhinein nicht nachzudenken vermochten. Folglich birgt die Nutzungsoberfläche Limitation und Freiheit zugleich. Die Gleichzeitigkeit dieses Phänomens stellt Friedrich von Borries schon allgemein für das Design auf. Interface und Editoren können als Beispiel seiner Annahme dienen:
Alles, was gestaltet ist, entwirft und unterwirft. Design ist von dieser sich bedingenden und ausschließenden Gegensätzlichkeit grundlegend prägt. Diese dem Design inhärente Dichotomie ist nicht nur eine gestalterische, sondern eine politische. Sie bedingt Freiheit und Unfreiheit, Macht und Ohnmacht, Unterdrückung und Widerstand. Sie ist das politische Wesen von Design.26
Politisch wird es auch dann, wenn sich das entwickelte Werkzeug von der ursprünglichen und vordergründigen Funktion loslöst. Den Bedeutungswandel von intimate computing, den Kaerlein aufzeigt (von früher Ermutigung der User:innen bis hin zum Computer als Machtmaschine), erscheint mir sinnbildlich für die Emanzipation des Werkzeugs, welche bereits Georg Simmel propagierte. In seiner Tragödie der Kultur und Philosophie des Geldes illustriert er dies am Beispiel des Geldes. Die Möglichkeit, dieses in alles umtauschen zu können, birgt in dem monetären Mittel eine neue Funktion, die eines universalen Umwandlungsapparats, welche über das reine Tauschgeschäft hinausgeht. Die Potenz des abstrakten Zahlungsmittels wirkt stärker als seine ursprüngliche Funktion, einen normierten Gegenwert zu schaffen.27
Die beschriebene Emanzipation des Mittels kann auch beim I-Cursor beobachtet werden. Er verinnerlicht sowohl Werkzeug als auch Repräsentation des eigenen Selbst auf dem Interface – eine Wahrnehmung, die empfindlich schnell kippen kann. Die Ich-Aussagen meiner Freund:innen bestätigen das Phänomen, welches symptomatisch für ein Zeitalter der HCI steht. So entwickelte sich der Aufforderungscharakter des blinkenden I’s von der Funktion der Auffindbarkeit zum Appell zur Arbeit. Ein weißer, leerer Editor, nur gefüllt mit dem I-Cursor, wird mit Untätigkeit, Unproduktivität und Unwirtschaftlichkeit verbunden. Das übertragene „Ich“ bleibt auf der Stelle stehen und das Blinken des Steuerungsbefehls untermalt das verstreichen der Zeit. Zusammenfassend wir der I-Cursor heute vollkommen neu interpretiert – anders gesagt, er hat sich von seiner ursprünglichen Funktion emanzipiert. Nicht die Ermutigung, sondern das Diktat zur kreativen Leistung steht im Vordergrund. Dies mag umso ausgeprägter bei Personen sein, die Schreiben als ihre berufliche Tätigkeit definieren.
Dass die Manifestation des Ichs im I-Cursor auch positiv auszulegen ist, zeigt seine Auflösung im Kollektiv, beispielsweise in der Entstehung eines kollaborativ geschriebenen Texts auf einer Plattform wie Google Docs. Anonymer Alligator, Leopard oder Pinguin sowie ein paar bekannte Namen von Arbeitspartner:innen betreten die weiße Bühne des Textdokuments. Auf Los geht‘s los und eine kleine Gruppe von bunten I-Cursorn rast über den weißen Editor. In Minutenschnelle entsteht durch das eigene Schreiben von Worten, insbesondere aber das zeitgleiche Tippen von mehreren Personen, ein Textwerk. Wie von Zauberhand verdoppelt, verdreifacht sich die kreative Leitung. Repräsentiert durch den jeweiligen I-Cursor in individueller Farbe, lassen sich die Mitarbeitenden erkennen, die ihren Gedanken und Ideen freien Lauf lassen. Texte der jeweils anderen werden mit Kommentaren oder Korrekturvorschlägen versehen. Hier und da verschwindet etwas ungefragt. Da sich die Anzahl der I-Cursor an die der Beteiligten anpasst, machen sie das Kollektiv im Textfeld sichtbar: Es ist nicht nur ein einsames Ich zu sehen. Dies kann zu einem positiven Empfinden und einem Flow-Erleben28 der anderen Art führen.
Persönlich mag ich daran festhalten, dass eine zeitgleiche Produktion von verschiedenen Individuen nicht nur zu einem Mehr an Spaß, sondern auch zu einer gemeinschaftlichen, einer kreativeren Leistung führt. Doch auch hier bleibt die zweite Seite der Medaille nicht ungesehen: dass dieses kollektive Arbeiten eine weitere Folge von Effizienzdruck und Brauchbarmachung von einem kapitalistischen System ist. Nicht selten ist man verleitet, das Schaffen der anderen zu beobachten: Wer schreibt was? Wer liefert mehr? Der I-Cursor wird in diesem Zusammenhang individuell und kontextabhängig unterschiedlich wahrgenommen – ob als Unterstützung oder als Druckmittel durch andere.
Die wesentliche Funktion des I-Cursors hat in den vergangenen 40 Jahren in unserer eigenen Wahrnehmung nach und nach an Bedeutung verloren. Die Geschichte und meine persönlichen Erfahrungen zeigen, dass es fruchtbar wäre, den Strich wieder aus einer kindlichen, spielerischen und möglichkeitsorientierten Perspektive zu betrachten: mehr als Werkzeug des Entwerfens und weniger des Unterwerfens.29 Die äußere Form des I-Cursors mag sich in den letzten Jahren beobachtbar verschlankt haben, doch ist er dem stetigen Wandel der Interfacegestaltung nicht zum Opfer gefallen – ähnlich wie seine Kollegin, der Computermaus. Nach wie vor fungiert der I-Cursor als Brücke zweier Ufer – Mensch und Maschine – und schafft so Verständigung zwischen den beiden Systemen. Es bleibt zu vermuten, dass erst eine größere Umwälzung in der Textproduktion zu seinem Ableben beitragen wird. Schon heutige Entwicklungen wie das Versenden von Sprachnachrichten deuten darauf hin. Dann, wenn die Grenze von User:in und Computer immer weiter verschwindet und ein humanoid-technoides Hybrid entsteht, wird auch der Gebrauch der kleinen blinkenden Linie zwischen zwei Worten, zwischen zwei Entitäten, keinen Zweck mehr erfüllen.
Die Masterstudentin der Design Studies Katharina Mludek richtet ihren Blick mit ihrer kulturwissenschaftlichen Vorerfahrung auf marginalisierte Designdetails des Alltags. In ihrer Forschung an der Burg Giebichenstein Halle setzt sie sich theoretisch und praktisch mit Kochen, sozialen Netzwerken und co-kreativen Prozessen auseinander.
1 Sven Grampp, „Schreibwerkzeuge im Film: Pinsel, Feder und Schreibmaschine“, Hrsg. Kay Kirchmann, Jens Ruchatz, Medienreflexion im Film (Bielefeld: transcript, 2014), 215.
2 Vgl. ebd., 214.
3 Vgl. Bernhard Siegert, „Türen. Zur Materialität des Symbolischen“, Zeitschrift für Medien und Kulturforschung, Nr. 1 (2010): 151-170.
4 Vgl. Gottfried Semper, „Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik“, ders., Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde - Zweiter Band (1879): 6-8, 102-110.
5 Die beiden ikonischen Designobjekte sollen hier als Kontrastfolie zu wenig analysierten Alltagsgegenständen in der Designrezeption dienen.
6 Vgl. Wolfgang Beinert, „Systemschriften“, Typographie Lexikon, zuletzt abgerufen 26.11.2021, www.typolexikon.de/systemschriften.
7 Philip B. Meggs, Alston W. Purvis, History of Graphic Design (Hoboken: John Wiley & Sons, 2016), 353.
8 Vgl. Ashley J. Lewis, Emma R. B. Norton, „The Computer Mouse Conference”, zuletzt abgerufen 19.08.2021, complicatingthecomputermouse.net.
9 Vgl. Timo Kaerlein, „I can’t remember ever being so in love with a color”, ders. Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien: Zur Kybernetisierung des Alltags (Bielefeld: transcript, 2018), 188.
10 Joseph C. R. Licklider, „Man-Computer Symbiosis“, IRE Transactions on Human Factors in Electronics, Nr. 1 (1960): 4-11.
11 Kaerlein, „I can’t remember ever being so in love with a color”, 190.
12 Hans Dieter Hellige (Hg.), Mensch-Computer-Interface: Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung (Bielefeld: transcript, 2008), 34.
13 Kaerlein, „I can’t remember ever being so in love with a color”, 193.
14 Steht für den Ausdruck „what you see is what you get” und meint die Echtzeitdarstellung auf einem Bildschirm.
15 Susan Jerome, Bravo Course Outline (Palo Alto: Palo Alto Research Center, 1976), 4.
16 Vgl. ebd.
17 Aufgrund seiner Optik wird das Zeichen auch als I-Beam Pointer tituliert, was auf einen Doppel-T-Träger aus Stahl (I-beam) im Querschnitt anspielt.
18 Vgl. Hellige, Mensch-Computer-Interface, 33-34.
19 Google, US3531796A, „Patent blinking cursor for crt display”, zuletzt abgerufen am 19.08.2021 (1967), patents.google.com/patent/US3531796.
20 Max Jennings, „When computers had personality”, zuletzt abgerufen am 19.08.2021, blog.console.dev/when-computers-had-personality-a-history-of-consoles.
21 User Experience Stack Exchange, „Who invented the blinking cursor”, zuletzt abgerufen 19.08.2021, ux.stackexchange.com/questions/33640/who-invented-the-blinking-cursor/33644. Die verifizierte Sicherheit, dass dies ein echter Eintrag der verwandten Person ist, ist nicht gegeben. Die Korrektheit des Datums lässt dies jedoch vermuten.
22 Kaerlein, „I can’t remember ever being so in love with a color”, 189.
23 Ebd., 195.
24 Vgl. ebd.
25 Ebd., 185.
26 Friedrich von Borries, Weltentwerfen: Eine politische Designtheorie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2016), 9, 10.
27 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, zuletzt abgerufen am 19.08.2021, www.digbib.org/Georg_Simmel_1858/Philosophie_des_Geldes.
28 Das Flow-Erleben nach Mihály Csíkszentmihályi erklärt einen Zustand, der davon geprägt ist, die Oberhand über die eigenen Handlungen im Angesicht einer (gemeinsamen) Herausforderung innezuhaben.
29 Vgl. von Borries, Weltentwerfen, 9, 10.