Jenseits der Oberfläche:
„KI-Kunst" als kreativer Prozess
von Katrin Rollmann
Die Printarbeit The Butcher’s Son (2017) (Abb. 1), Teil der Imposture Series, von Mario Klingemann (*1970) hat 2018 als erstes maschinengeneriertes Porträt einen bedeutenden internationalen Kunstwettbewerb gewonnen, den The Lumen Prize Gold Award.1 Es zeigt eine scheinbar menschliche Gestalt mit entstelltem Gesicht, verschwommenen Fleischtönen und abstrakten Merkmalen, deren malerische Erscheinungsform die Betrachtenden womöglich an den fließenden, expressiven Stil von Francis Bacon (1909–1992) erinnert. Tatsächlich wurde Klingemanns Generative Adversarial Network (GAN) Modell nicht mit Abbildungen der Malereien von Bacon trainiert, um dessen Stil bewusst nachzuahmen, sondern mit Strichmännchen und pornografischen Bildern aus dem Internet. In der Betrachtung der verzerrten, hybriden Form verleitet uns lediglich unser Bildgedächtnis dazu, fälschlicherweise Ähnlichkeiten mit dem Stil von Bacon zu erkennen, obwohl es sich um eine charakteristische Erscheinung der Architektur der GANs handelt. Ein GAN ist ein Computersystem, welches aus zwei neuronalen Netzen besteht: einem Generator-Algorithmus zur Datenproduktion und einem Diskriminator-Algorithmus zur Unterscheidung zwischen maschinell erzeugten und authentischen Daten. Dem System wird ein Datensatz zur Verfügung gestellt, aus dem der Generator neue Bilder erstellt, welche die erkannten Muster imitieren, und der Diskriminator erkennt, ob es sich um echte Bilder aus dem Datensatz oder um vom Algorithmus generierte Kompositionen handelt. Der Erfolg eines GANs manifestiert sich, wenn der Generator den Diskriminator erfolgreich täuscht.2 Der Künstler bewertete diese Bilder dann und änderte bestimmte Variablen in den Algorithmen, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Dieser langwierige Prozess führte zu The Butcher‘s Son.
Abb. 1: Mario Klingemann, The Butcher’s Son. Imposture Series, 2017. Courtesy des Künstlers und DAM Projects, Berlin.
Aktuell erreicht der Hype generativer Künstlicher Intelligenz (KI) im Bereich der Kunst, so wie mit öffentlich zugänglichen Bildgeneratoren wie Dall-E, Midjourney oder Stable Diffusion, einen Höhepunkt, bei denen Bilder vermeintlich auf Knopfdruck geschaffen werden. Mit ihrer einfachen, intuitiven und vor allem kostenlos zugänglichen Charakteristika faszinieren sie die Öffentlichkeit.3 Diese Bilder sehen durch Style Transfer-Algorithmen aus, als seien sie beispielsweise von Rembrandt oder Bacon gemalt und werden aufgrund der innovativen Möglichkeiten und schnellen Entstehung als überraschend bis hin zu ‚magisch‘ wahrgenommen.4 Dies kommt daher, weil der Input, das heißt unter welchen Kriterien welche Bilder eingespeist wurden, oft nicht nachvollziehbar ist, wodurch den Systemen eine menschenähnliche Autonomie zugesprochen wird. Beim genaueren Blick hinter die technischen Funktionsweisen lässt sich zudem feststellen, dass die visuellen Möglichkeiten der meisten generativen Modelle nicht über die bloße Simulation von Stilen und Epochen hinausgehen. Denn die Trainingsdatensätze bedienen sich an bestehenden historischen Kanons, Genres und individuellen Künstlerstilen. Diese Art von Bildern können als Nachahmung bezeichnet werden, bei der es sich um reine Mimikry handelt, eine belanglose Ähnlichkeit, die auch als eine Maskerade fungiert, wie Kunsthistorikerin Joanna Zylinska konstatiert.5 Eine Maskerade deshalb, da sie darüber hinwegtäuscht, dass sich dahinter ein Prozess verbirgt, der von Programmierer:innen, Daten und Kategorisierungen vorangetrieben wird. Grundlage bilden somit die Datensätze, die bestimmen, wie komplex oder ‚interessant‘ die Outputs sind — je nachdem, wie gut diese kuratiert und je nachdem, welche Daten enthalten sind.6 Beispielsweise können Datensätze, die nur aus pornografischen Bildern von Menschen bestehen, wie im Falle von The Butcher’s Son, auch nur solche hervorbringen. Es fällt auf, dass das Kriterium ‚interessant‘ innerhalb der KI-Kunst häufig im Kontext des Auswahlprozesses verwendet wird, um auf die künstlerischen Prozesse des Kuratierens von Daten und der Auswahl der Outputs zu verweisen. Dies zeigt sich insbesondere in Abgrenzung zur Kritik an KI-Kunst, die an sich ‚langweilig‘ sei. Beispielsweise schreibt der Kunstkritiker Jonathan Jones im Guardian über die Arbeit Circuit Training (2019) von Mario Klingemann: „It’s one of the most boring works of art I’ve ever experienced. The mutant faces are not meaningful or significant in any way. There’s clearly no more ‚intelligence‘ behind them than in a photocopier that accidentally produces ‚interesting‘ degradations.”7 Das Sprechen über KI-Kunst und Kriterien wie ‚interessant‘ oder ‚langweilig‘ können meiner Meinung nach anhand der Unterscheidung in Werke mit reiner Nachahmung vorhandener künstlerischer Stile und einer ‚interessanten‘ konzeptuellen Idee des:der Künstler:in präzisiert werden. Eine solche Kritik wird mit einer kunsthistorischen Analyse möglich, die den gesamten künstlerischen Prozess betrachtet, statt den Blick lediglich auf den Output der Arbeit zu lenken.
Obwohl das Zusammenspiel von KI und Kunst bereits eine lange Historie verbindet, entstehen in diesem Bereich kontroverse Debatten darüber, ob KI fähig ist, authentisch kreativ zu sein, wobei Kreativität oft als die „letzte Bastion“8 des Menschen betrachtet wird. In Hinblick auf aktuelle öffentliche Debatten wird KI dabei häufig als Künstlerin oder Assistentin inszeniert, die vermeintlich autonom ein Kunstwerk ‚gemalt‘, ein Musikstück ‚geschrieben‘ oder ein Gedicht ‚verfasst‘ hat. Wie auch im Zitat von Jonathan Jones deutlich wird, welcher der Arbeit das ‚Interessant-Sein‘ abspricht, da die Maschine nur so intelligent sei wie ein Fotokopierer, wird der kreative Prozess der Maschine zugesprochen, statt den Blick auf die Arbeit von Künstler Klingemann zu lenken. Dabei zeichnet sich das Feld der sogenannten KI-Kunst durch ein breites Spektrum an Künstler:innen aus, die über die Nutzung von KI als Werkzeug und über die häufig debattierten Kontroversen um die „Ersetzung von Künstler:innen durch KI“ und „KI-Kunst ist keine Kunst“ hinausgehen und tatsächlich interessante Arbeiten schaffen.9 Klingemann selbst verweist im Rahmen seiner Arbeiten darauf, dass der Code und das System Teile des Werks sind und nicht nur das sichtbare Bild.10 Er gehört zu einer Generation von Künstler:innen – wie auch Helena Sarin, Anna Ridler oder Sophia Crespo –, die über die bloße Nachahmung künstlerischer Stile hinausgehen und sich kritisch-reflektierend mit den inneren Funktionsweisen von Systemen auseinandersetzen, sie hinterfragen und zumal untergraben.
Vor diesem Hintergrund betont der Essay die komplexe doppelte Rolle von KI als Kunstgegenstand und als Werkzeug und hebt die Spannung zwischen Imitation und künstlerischem Ausdruck hervor. Plädiert wird für eine tiefere Erforschung des kreativen Prozesses, der konzeptuellen Absicht und einer reflektierten KI-Kritik. Der Fokus soll dafür nicht nur auf dem finalen Werk liegen, sondern muss auf den gesamten kreativen Prozess gelenkt werden, bei dem Künstler:innen mit generativen Modellen arbeiten, um neue Stilformen zu erforschen. Anhand des Vergleichs der Werke von Klingemann und Bacon wird dargestellt, warum KI-Kunst als Konzeptkunst betrachtet werden muss. Währenddessen wird über die häufig gestellte Frage „Kann KI kreativ sein?“ hinausgegangen und dem Vorschlag von Zylinska folgend in Bezug auf generative Möglichkeiten gefragt: In welcher Weise kann der Mensch kreativ sein?11
Der „Francis-Bacon-Effekt“
Mario Klingemann experimentiert mit maschinellem Lernen im Kontext von Gesichtern, Körpern und Identitäten und gilt als Pionier im Feld der KI-Kunst. Angefangen beim Erfolg von DeepDream (2015), wurden neuronale Netze zur Produktion von Kunst immer beliebter. In der Forschung werden GANs dazu verwendet, um Bilder zu generieren, die so realistisch wie möglich aussehen. Dagegen nutzen eine wachsende Zahl an Künstler:innen die Erscheinung von GANs als kreatives künstlerisches Medium, welche so prägnant ist, dass KI-Forscher François Chollet sie als neuen Stil namens „GANism“ diskutiert hat. Damit meint er das spezifische Aussehen und das Gefühl, was GAN-generierte Bilder in den Betrachtenden auslöst.12 Auch weil die Rechenleistung für den Trainingsprozess oft nicht ausreichend vorhanden ist, um fotorealistische Bilder zu schaffen, entstehen diese „halb abstrakten, zähflüssigen Bilder“,13 die wie im Falle von Klingemanns The Buchter’s Son als bewusste künstlerische Entscheidung genutzt werden.14 Zur Beschreibung der deformierten Anatomie und unheimlichen Stimmung in seinen GAN-Arbeiten nutzt der Künstler selbst den Begriff „Francis-Bacon-Effekt“.15 Die verzerrten Formen, verschwommenen Farben und entstellten Gesichter zeichnen seine Experimente mit generativen Modellen aus. Bei einer oberflächlichen Betrachtung besteht die Gefahr eines voreiligen Pseudomorphismus, bei dem Betrachter:innen geneigt sind, in der charakteristischen verzerrten Erscheinung durch GANs eine gewisse Ähnlichkeit mit den Werken von Bacon zu erkennen. Dies könnte dazu führen, dass der KI eine autonome kreative Leistung zugeschrieben wird, ein Diskurs, der seit den 1960er-Jahren im Zusammenhang mit der Maschine als Künstler:in intensiv debattiert wird. Die implizite Annahme, dass der Stil von Bacon durch eine KI auf ähnlich kreative Weise neu interpretiert werden kann wie vom Maler selbst, lenkt jedoch vom eigentlichen künstlerischen Prozess von Klingemann ab. Damit verlagert sich der Fokus von der kreativen Tätigkeit des Künstlers hin zum finalen Werk, das irrtümlicherweise als autonom, von einer Künstlichen Intelligenz geschaffen, wahrgenommen wird. In diesem Zusammenhang führt eine rein vergleichende formale Analyse des finalen Werks zu irreführenden Schlussfolgerungen über die künstlerische Herangehensweise von Klingemann. Wenn der Prozess und die Materialität seiner Arbeiten mitgedacht wird, zeichnen sich diese durch vielfältige Themen und Intentionen aus – darunter kritische Betrachtungen von Annahmen über Autor:innenschaft, Kreativität, Originalität, den Einfluss des Zufalls und die Kontrollmechanismen, die eine umfassendere Betrachtung und Interpretation erfordern.16
Die expressiven Gemälde von Bacon manifestieren zwar ähnlich deformierte menschliche Körper und Gesichter wie die Arbeiten von Klingemann, dennoch unterscheiden sich die künstlerische Motivation und Vorgehensweise signifikant. Bacons Bildnisse, welche sich in einem autobiografischen Kontext verorten lassen, stellen immer existierende Personen aus seinem näheren Umfeld dar, deren Wesenszüge er mit einer großen Intensität und Intimität in einer Übereinanderlagerung von Zuständen darstellt.17 Beispielsweise war eine seiner größten künstlerischen Inspirationen sein langjähriger Partner George Dyer (1934–1971), den er in seinem Leben viele Male dargestellt hat.18 Das Triptychon Three Studies for Portrait of George Dyer (On Light Ground) (1964) (Abb. 2) ist eines dieser Gemälde seines Partners im kleinen Format, bestehend aus drei Bildern mit verschiedenen Ansichten – Dreiviertelansicht, Profil nach rechts, Frontalansicht. In Bacons vielseitigen Gemälden von Dyer schafft er keine traditionellen Porträtbilder, in denen der wahre Charakter der Person vor dem makellosen eigenen Bild in den Hintergrund tritt, sondern zeigt eine große Bandbreite menschlichen Dramas: Verwundbarkeit, Melancholie, Romantik, Absurdität, Qual. Three Studies for Portrait of George Dyer (On Light Ground) malt er im Jahr ihrer ersten Begegnung und somit auf dem Höhepunkt seiner Verliebtheit und zeigt in seinem expressiven malerischen Stil seine Leidenschaft.19 Für sein Bildprogramm greift Bacon auf verschiedene Materialien wie die fotografischen Quellbilder von John Deakin (1912–1972) oder früher die Bewegungsstudien von Eadweard Muybridge (1830–1904) zurück, welche er in seinem Atelier sammelte. Sie haben die Art und Weise, wie Bacon die Bewegungen des menschlichen Körpers darstellt, beeinflusst, indem er verschiedene fotografische Momentaufnahmen in eine malerische Dynamik aus verschiedenen Perspektiven überträgt. In den Darstellungen von George Dyer treten mitunter einzelne oder sogar mehrere fotografische Referenzen klar hervor, die in einer Überlagerung perspektivischer Bewegungen und unterschiedlicher Zeitebenen sichtbar werden. Diese und zahlreiche weitere fotografische Bezüge fungieren als Vorlagen und Erinnerungsquellen für Bacons künstlerischen Prozess sowie seine Formfindung. Sie tragen maßgeblich zur Schaffung seiner surrealen, düsteren und verwundbaren Darstellungen des menschlichen Individuums bei.20
Abb. 2: Francis Bacon, Three Studies for Portrait of George Dyer (on light ground), 1964. © The Estate of Francis Bacon. All rights reserved / VG Bild-Kunst, Bonn 2024.
Sein künstlerischer Ansatz steht im konträren Verhältnis zu den generativen Experimenten von Klingemann und betont die Wichtigkeit einer kontextualisierten Betrachtung bei der Analyse kunsthistorischer Werke. Die verzerrten Effekte und hybriden Körper in Klingemanns The Butcher's Son sind nicht primär eine bewusste Entscheidung des Künstlers, sondern vielmehr das Ergebnis der Begrenzungen seines Modells, das nicht in der Lage ist, ein Gesicht auf fotorealistische Weise zu imitieren. Die von GANs erzeugten Bilder weisen einen unverwechselbaren Stil auf, insbesondere bei schlecht trainierten Modellen. Ein neuronales Netzwerk kann zwar darauf trainieren werden, sich an die Realität anzunähern, jedoch besteht auch die Möglichkeit, die Fähigkeiten so zu manipulieren, dass die erzeugten Bilder anderen Kriterien folgen – in Klingemanns Fall seinen künstlerischen Intentionen entsprechend. Klingemann erkundet die menschliche Gestalt anhand von pornografischen Internetbildern und dem Gebrauch von einem neuronalen Netzwerk. In seiner Arbeitsweise stellt Klingemann zunächst eine Auswahl von Fotografien zusammen, die er seinen Modellen zuführt. Anschließend trainiert er seine Modelle – sowohl Generatoren als auch Diskriminatoren – darauf, Fehler zu machen oder sich an eine manipulierte visuelle Realität zu halten, die seiner künstlerischen Vorstellung entspricht. Der ‚interessante‘ „Francis-Bacon-Effekt“ entsteht durch die Tatsache, dass das Modell Fehler und Abstraktionen vollzieht. In einem mehrdimensionalen, virtuellen Raum, dem sogenannten latent space, werden dann zahlreiche Bilder generiert. Dabei werden verschiedene Merkmale wie Rauschen, Texturen und Strukturen mehrfach durch GANs angepasst, um das Bild zu verfeinern. Es werden Elemente zugefügt, die fast als malerisch und verschwommen beschrieben werden können. Sobald der Gesamteindruck im latenten Raum Klingemann zufriedenstellt, wählt der Künstler interessante visuelle Konstruktionen aus, ‚rahmt‘ und ‚fotografiert‘ diese in einem abschließenden Schritt, den er „Neurographie"21 nennt. Das, was sich stilistisch als „Francis-Bacon-Effekt“ bezeichnen lässt, zeigt also im technischen Sinne, wie das generative System Informationen verarbeitet und visuelle Muster repliziert. Während Bacon durch expressive Überlagerungen innere Wesenszüge und Zustände in seiner Malerei visualisiert, nutzt Klingemann die Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit der GANs, um einen zum Teil eigenwilligen Stil zu erzeugen.
Was den beiden vielleicht ähnlich ist, ist die Verwendung fotografischen Quellmaterials. Jedoch hat Bacon betont, dass Fotografie für ihn ein „Behelfsmittel seiner Malerei ist und keineswegs ein Initiator seiner Bildmotive“.22 Die Fotografien ermöglichen es ihm, sich die Erscheinung einer Person besser zu vergegenwärtigen, um diese in seiner Malerei einfangen zu können. Ähnlich wie die Inspirationsquellen von Bacon Aufschluss über Intention und Inspiration des Malers gewähren, ist es spannend und wichtig, die Quellen von The Butcher’s Son zu betrachten, statt es vereinfachend als KI-generierte Kunst zu bezeichnen.23 Die Bedeutung von Trainingssätzen wird in diesem Kontext oft vernachlässigt, obwohl sie entscheidend für die finale Arbeit sind. Trainingsdatensätze geben Künstler:innen ein gewisses Maß an Kontrolle, während ein GAN eine Qualität ermöglicht, bei der die Materialien eine Art Eigenleben entwickeln, worüber Künstler:innen keine wirkliche Kontrolle mehr haben. Das finale Werk wurde von Klingemann aus über 50.000 Bildern ausgewählt, die mit seinem Imposture Series-Modell erstellt wurden. In diesen Arbeiten liegt der Fokus des Künstlers auf dem menschlichen Körper, wobei er seine KI-Modelle darauf trainiert, die Körperhaltung zu erforschen, indem er Strichmännchen in Figuren umwandelt, die auf der Analyse von Bildern aus dem Internet basieren. Klingemann betont, dass das Finden des ‚interessanten‘ Bildes inmitten einer nahezu unendlichen Menge ‚uninteressanter‘ Bilder die zentrale Herausforderung darstellt.24 Die Gegenüberstellung von Klingemann und Bacon bietet Erkenntnisse insbesondere hinsichtlich der Problematik direkter formaler und stilistischer Vergleiche zwischen maschineller und menschlicher Kreativität. Es wird verdeutlicht, warum eine differenzierte Bewertung des Stils im Bereich der KI-Kunst notwendig ist. Um die Problematik zu verstehen, KI-generierte Bilder, die auf Gemälden basieren, einfach als "Malerei, die von einer KI erschaffen wurde" zu bezeichnen25, ist es außerdem wichtig, den zugrunde liegenden Stil-Begriff genauer zu betrachten.
Ein erweiterter Stil-Begriff?
Im Feld der Kunstgeschichte kann Stil auf unterschiedliche Weise definiert werden und sich auf eine Epoche oder Strömungen („-ismen“), auf einen persönlichen Ausdruck einer kunstschaffenden Person oder einer Werkstatt beziehungsweise eines Kollektivs beziehen. Auch bestimmte Genres und Medien können eine Rolle bei der Ähnlichkeit formaler Merkmale spielen. Bereits seit den 1990er-Jahren ist es technisch möglich, durch Bildbearbeitungssoftwares gemäldeähnliche Texturen auf ein Bild zu übertragen und so Bilder zu kreieren, die an einen bestimmten Stil erinnern. Seit der Entwicklung von Style Transfer26 kann Stil sogar durch maschinelle Mustererkennung in einem Referenzbild erkannt werden und auf andere Bilder übertragen beziehungsweise neu konstruiert werden.27 Was an einen individuellen Stil, ein Medium, ein Genre oder eine Technik erinnert, wird von einem KI-System als typisches visuelles Muster erkannt, anhand dessen neue Bilder produziert werden können. In diesem Kontext sind KI-generierte Werke im Wesentlichen mimetisch, da sie auf dem Erlernten eines neuronalen Netzwerks aus Daten basieren, die anschließend verarbeitet werden. Der Begriff der Mimesis beschreibt den ästhetischen Prozess als die Schaffung von Artefakten, welche die Realität in gewissem Maße nachahmen. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass die in der KI-Kunst entstandenen Artefakte eine direkte Abbildung der realen Welt darstellen können. Vielmehr bedeutet „mimetisch“ in diesem Kontext, dass die Arbeit auf den Umfang und die Ausstattung des Datensatzes angewiesen ist, aus dem sie hervorgeht. Somit können neue Bilder lediglich innerhalb dieses vordefinierten Rahmens entstehen und sind dadurch begrenzt.28 Das Verständnis von KI-Modellen erfordert die Kenntnis, dass derzeit keine Technologien existieren, welche eine autonome Form von Intelligenz entwickeln können. Computer basieren auf statistischen Prinzipien und werden trainiert, um bestimmte Muster, Formen und Objekte zu erkennen.
Wenn Mario Klingemanns GAN-Modell mit pornografischen Fotografien aus dem Internet trainiert wird, können faszinierende Werke entstehen, die als „Francis-Bacon-Effekt“ bezeichnet werden. Es ist jedoch wichtig, herauszustellen, dass diese Arbeiten nie ein Bild produzieren können, das den kunsthistorischen Kontext von Bacons Gemälden berücksichtigt. Fabian Offert, Assistant Professor für Geschichte und Theorie der Digital Humanities, betont, dass ein neuronales Netzwerk sich nicht von den Daten distanzieren kann, mit denen es arbeitet, da diese Daten „seine gesamte Welt darstellen“.29 In diesem Sinne stiftet das Konzept der Mimesis im Feld der KI-Kunst immer wieder Verwirrung, zumal weil KI im Kontext von Kunst zugesprochen wird, „malen“, „zeichnen“ oder „schreiben“ zu können und die künstlerische Arbeit obsolet zu machen beziehungsweise den Kunstschaffenden zu ersetzen. Werke wie Edmond de Belamy (2018) oder The Next Rembrandt (2021) spielen mit dieser alten Trope der Maschine als Künstler:in, die bereits seit den Anfängen algorithmischer Kunst von Journalist:innen oder Ausstellungsmacher:innen gerne aufgegriffen wird. Angesichts der allgemeinen Ängste bezüglich KI, die den Menschen in verschiedenen Bereichen, die zuvor ihm vorbehalten waren, ersetzen wird, erstaunt es nicht, dass die Vorstellung, KI könne an die Stelle bildender Künstler:innen treten, einen erheblichen Hype auslöst. Werke, die als „Kunst durch Künstliche Intelligenz“ vermarktet werden, erlangten in den vergangenen Jahren beträchtlichen Erfolg und mediale Aufmerksamkeit. Ein Beispiel hierfür ist der Verkauf des in Gold gerahmten GAN-Porträts Edmond de Belamy durch die französische Gruppe Obvious im Jahr 2018 zu dem erstaunlichen Preis von 432.500 US-Dollar bei Christie's.30 Die Zuschreibung menschlicher Eigenschaften wie beispielsweise die Fähigkeit der KI, Kunst zu schaffen, zu träumen oder zu halluzinieren, führt zu einer Attribution von Handlungsmacht (engl. agency) auf die Technologie, was zu potenziellen Missverständnissen führen kann. Die als „maschinell kreativ“ inszenierten Werke verfallen tatsächlich einer naiven Imitation, die von Kunsttheoretiker:innen zu Recht als belanglos kritisiert wird.31 Diese Arbeiten sind lediglich Adaptionen bestimmter Porträtmuster, da der Computer mit einer Vielzahl von Porträts aus der Kunstgeschichte trainiert wurde. Stilistische Merkmale wie „Ölmalerei“ oder „klassisches Porträt“ werden im System ausschließlich als „Muster visueller Informationen“32 verarbeitet.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass generative Methoden einerseits als Instrumente für die künstlerische Produktion dienen und andererseits im Rahmen der Inszenierung der „kreativen Maschine“ Verwendung finden. Die Fokussierung auf den Vergleich zwischen menschlicher und künstlicher Kreativität, wenn in einem Kunstwerk betont, verhindert eine umfassende Erkundung der tatsächlichen innovativen Potenziale dieses Mediums und beschränkt sich häufig auf eine naive Imitation. Im Gegensatz dazu agiert Klingemann als Künstler und Programmierer, der nicht nur die Hintergründe seines künstlerischen Schaffens offenlegt, sondern auch die Potenziale des Modells erkundet.
Generative Arbeiten als Konzeptkunst
If you consider the whole process, then what you have is something more like conceptual art than traditional painting.33
Mario Klingemann lotet die Grenzen und Fehler des KI-Systems umfassend aus und nutzt pornografische Bilder, um daraus überraschende Effekte herauszuarbeiten. Der resultierende Output eines maschinellen Lernprozesses ist in gewisser Hinsicht zwar von einer Unvorhersehbarkeit geprägt, jedoch erfolgt diese Zufälligkeit innerhalb der klar definierten Grenzen des dem System zugeführten Trainingsdatensatzes. Dabei entscheidet Klingemann selbst, welche Richtung das Training nehmen soll, um dann auf Basis einer Vielzahl von pornografischen Akt-Bildern einen gemeinsamen Nenner zu extrahieren. Das finale Werk repräsentiert lediglich einen langwierigen künstlerischen und technischen Gestaltungsprozess, der gerade mit Fokus auf seine Prozesshaftigkeit betrachtenswert ist. Das spannende an KI-generierten Arbeiten liegt nicht nur im Ergebnis, sondern wird vom Prozess, einschließlich des kuratierten Datensatzes, der Wahl des Algorithmus und seiner Parameter sowie der Nachbearbeitung bestimmt. Wenn sich die Rezeption bloß auf Stil und Form beschränkt, ohne den Hintergrund, die Idee und die Technik in Betracht zu ziehen, bleibt KI-Kunst lediglich Mustererkennung und Extraktion, wie der Leiter des Art and Artificial Intelligence Lab der Rutgers Universität Ahmed Elgammal in einem Interview mit dem Auktionshaus Christie’s konstatiert.34 So bietet es sich an, KI-Kunst daher in der Linie der in den 1960er-Jahren aufgekommenen Konzeptkunst zu sehen. Wie der Name verrät, wertet diese Kunstrichtung das Konzept des Werkes, die Idee und den Prozess hinter dem finalen Ergebnis auf. Der Outcome ist meist nur eine Annäherung an die Vorstellung des:der Künstler:in, die:der diesen aus einer unendlichen Menge an Bildern unterschiedlicher Qualität herausgearbeitet hat. Laut Fabian Offert liegt gerade da die eigentliche Herausforderung bei der künstlerischen Arbeit mit GANs: aus dem Überfluss an Material ‚interessante‘ Produkte im sogenannten latent space zu identifizieren. Offert vergleicht diesen mehrdimensionalen Repräsentationsraum mit einem Medium, das bereits mit Bildern versehen ist, noch bevor der Trainingsprozess stattfindet. Er betont, dass dieser Raum kein weißes Blatt ist, sondern ein scheinbar unendliches Potenzial an Bildern birgt, die hervorgebracht werden können. Für die Kunstschaffenden geht es dann darum, aus der Fülle an Möglichkeiten konkrete Artefakte herauszuarbeiten, die das Potenzial des Materials überschreiten. Vor diesem Hintergrund schlägt Offert vor, „KI-Kunst als Skulptur“35 zu bewerten, also als subtraktives plastisches Verfahren.36 Im Sinne von konzeptueller Kunst liegt der Fokus weniger auf dem endgültigen physischen Objekt, sondern vielmehr auf dem Prozess und der Idee, die hinter dem finalen Werk steht. Bei Klingemanns künstlerischem Prozess, wie bereits zuvor dargestellt, stellt er den Datensatz aus pornografischen Bildern zusammen, kuratiert und arbeitet das finale Werk letztendlich nahezu wie aus einem virtuellen Marmorblock heraus. Der Künstler arbeitet mit einer Methode, mit der er das Gelernte manipuliert, um auf diese Weise Bilder entstehen zu lassen, die seinen künstlerischen Zielen entsprechen. Er legt die Voreinstellungen des Modells fest und trifft schließlich eine kuratorische Auswahl, indem er aus den zahlreichen Variationen, die die Modelle erzeugen, diejenigen aus dem mehrdimensionalen Repräsentationsraum herausarbeitet, die seiner künstlerischen Ausrichtung am meisten entsprechen.36 Am Ende steht der Auswahlprozess durch den Künstler.37 In diesem Sinne lässt sich auch Mario Klingemanns künstlerische Praxis als ein subtraktives plastisches Verfahren betrachten, woraus ein finales Werk entsteht, welches malerisch und verzerrt auf uns wirkt. KI-Tools können als künstlerische Methode beschrieben werden, die zwar Überraschungsmomente bei den Künstler:innen hervorbringen, die Absicht liegt jedoch im kreativen Prozess, bei dem es um die Erforschung neuer visueller Formen und algorithmischer Bilder durch maschinelle Verfahren geht.39 Die Konstruktion von KI als autonome kreative Maschine wird durch die Betrachtung als Konzeptkunst dekonstruiert, wodurch neue Möglichkeiten für kreative Ausdrucksformen mit GANs und deren Bewertung und Analyse geschaffen werden.
Katrin Rollmann schreibt derzeit ihre Masterarbeit am Institut für Kunstgeschichte der HHU Düsseldorf über Vorstellungen und Phantasmen in Bezug auf KI in der Kunst. Sie arbeitet zudem als wissenschaftliche Hilfskraft an einem interdisziplinären Institut für KI und Datenwissenschaften an der HHU.
1 Siehe Lumen Prize, https://www.lumenprize.com/blog/meet-mario (zuletzt abgerufen am 01.11.2023).
2 Vgl. „GAN," AI ART-Glossar, zusammengestellt von Pamela C. Scorzin, KUNSTFORUM International, Bd. 278 (Nov.–Dez. 2021), 179.
3 Vgl. Merzmensch, KI-Kunst: Kollaboration von Mensch und Maschine (Berlin: Klaus Wagenbach, 2023), 29.
4 Ebd., 51.
5 Vgl. Joanna Zylinska, AI ART: Machine Visions and Warped Dreams (London: Open Humanities Press, 2020), 50, http://openhumanitiespress.org/books/download/Zylinska_2020_AI-Art.pdf (zuletzt abgerufen am 01.11.2023).
6 Vgl. Fabian Offert, “The Past, Present and Future of AI Art,” 18.06.2019, https://thegradient.pub/the-past-present-and-future-of-ai-art/ (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).
7 Jonathan Jones, “‘I’ve Seen More Self-Aware Ants!’: AI, More then Human: Review,” 15.05.2019, https://www.theguardian.com/artanddesign/2019/may/15/ai-more-than-human-review-barbican-artificial-intelligence (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).
8 Manuela Lenzen, Künstliche Intelligenz: Was sie kann und was uns erwartet (München: C. H. Beck, 2018), 120.
9 Siehe Merzmensch, 48.
10 Siehe AIArtists, https://aiartists.org/mario-klingemann (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).
11 Vgl. Zylinska, 55.
12 „GANism (the specific look and feel of seemingly GAN-generated images) may yet become a significant modern art trend.“, Francois Chollet, 13.07.2017, https://twitter.com/fchollet/status/885378870848901120 (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).
13 Paul Waelder, „Beyond GANism: AI as Conceptual Art,“ 15.04.2020, http://ciac.ca/en/ai-ciac-mtl-03-01 (Übersetzung KR, zuletzt abgerufen am 01.11.2023).
14 Vgl. Simone Salomon, “’GANism’: GAN-Bilder in der zeitgenössischen Kunst,” 07.02.2022, https://katzlberger.ai/2022/02/07/gan-bilder-in-der-zeitgenoessischen-kunst/ (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).
15 Vgl. Manuel Meyer, “Metamorphose,” Art Ein Kunstmagazin, (Oktober 2021): 46–55.
16 Vgl. Anna Ridler, “Misremembering and Mistraslating: GANs in an Art Context,” o. D., http://annaridler.com/gans-in-art (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).
17 Vgl. John Russell, Francis Bacon (München: Lichtenberg, 1998 [London: Thames and Hudson, 1971]), 124.
18 Ebd., 78.
19 Vgl. Sotheby’s, https://www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue/2014/contemporary-art-evening-auction-l14022/lot.15.html (zuletzt abgerufen am 01.11.2023).
20 Vgl. Invar Hollaus, „Francis Bacons Selbstbildnisse: Der Rausch der Vitalität,“ Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 66 (H. 3 2003), 406–422.
21 Vgl. The Photographers’ Gallery, https://thephotographersgallery.org.uk/whats-on/mario-klingemann-neurography (Übersetzung KR, zuletzt abgerufen am 15.01.2024).
22 Hollaus, 406 ff.
23 Für eine gute Differenzierung des heterogenen Feldes der KI-Kunst siehe: Michael Klipphahn-Karge, "Repräsentation, Kritik und Anlass: Eine Trichotomie der künstlerischen Nutzungsaspekte von KI," Hg. Richard Groß, Rita Jordan, KI-Realitäten: Modelle, Praktiken und Topologien maschinellen Lernens (Bielefeld: Transcript, 2023).
24 Vgl. Lumen Prize, https://www.lumenprize.com/blog/meet-mario (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).
25 Vgl. Monopol Magazin, „Christie’s versteigert Werk eines Algorithmus,“ Monopol, 21.08.2018, https://www.monopol-magazin.de/christies-versteigert-werk-eines-algorithmus (zuletzt aufgerufen am 01.11.2022).
26 Leon A. Gatys, Alexander S. Ecker und Matthia Bethge, „A Neural Algorithm of Artistic Style,“ 02.09.2015 (http://arxiv.org/pdf/1508.06576.pdf).
27 Vgl. Merzmensch, 19.
28 Offert, o. S.
29 Ebd.
30 Vgl. Christie’s, „Is Artificial Intelligence Set to Become Art’s Next Medium?,“ 18.12.2018, https://www.christies.com/features/A-collaboration-between-two-artists-one-human-one-a-machine-9332-1.aspx (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).
31 Vgl. Hanno Rauterberg im Gespräch mit Axel Rahmlow, „Das Bild ist relativ belanglos,“ 26.10.2018, https://www.deutschlandfunkkultur.de/kunstexperte-zur-versteigerung-eines-ki-gemaeldes-das-bild-100.html (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).
32 Roland Meyer, „The New Value of the Archive: AI Image Generation and the Visual Economy of ‚Style’,“ IMAGE (37/2023), https://image-journal.de/the-new-value-of-the-archive/ (zuletzt abgerufen am 01.11.2023).
33 Vgl. Christie’s, „Is Artificial Intelligence Set to Become Art’s Next Medium?.“
34 Ahmed Elgammal, „What the Art World Is Failing to Grasp about Christie’s AI Portrait Coup,“ Artsy, 29.10.2018, https://www.artsy.net/article/artsy-editorial-art-failing-grasp-christies-ai-portrait-coup (zuletzt abgerufen am 01.11.2023).
35 Offert. Dort sind die technischen Hintergründe dieser Prozesse detailliert nachzulesen.
36 Ebd.
37 Vgl. Lumen Prize, https://www.lumenprize.com/2018winners/mario-klingemann (zuletzt abgerufen am 01.11.2023).
38 Vgl. The Photographers’ Gallery, https://thephotographersgallery.org.uk/whats-on/mario-klingemann-neurography (zuletzt abgerufen am 01.11.2023).
39 Vgl. Ahmed Elgammal, „When the Line Between Machine and Artist Becomes Blurred,“ The Conversation, 16.10.2018, https://theconversation.com/when-the-line-between-machine-and-artist-becomes-blurred-103149 (zuletzt abgerufen am 01.11.2023).