Machtumkehr auf Vertrauensbasis


von Martina Kutsch

Monica Bonvicini: I do You
Neue Nationalgalerie, Berlin
25. November 2022–30. April 2023


Wie ein überdimensionaler Sonnenreflektor bestrahlt Monica Bonvicinis 15 x 15 Meter große Spiegelwand I do You (2022) den Vorhof der Neuen Nationalgalerie, empfängt die Ausstellungsbesucher:innen mit der sinnlich wohltuenden Sensation von Wärme, nur um sie im gleichen Moment zum großzügigen Umgehen des Eingangsbereiches zu zwingen. Die Fronten sind klar: Es wird körperlich. Die öffentliche Installation I do You lehnt an der Dachplatte des ikonischen Museumsbaus von Mies van der Rohe und versperrt nicht nur den Eingang, sondern stört auch den freien Blick auf die auf gläserne Weite angelegte Fassade des Gebäudes. Die sich spiegelnde Farbwelt des Berliner Himmels verändert den Eindruck der Transparenz durch neue Farbdimensionen, die Reflektion der urbanen Umwelt beraubt das Gebäude seines monumentalen ersten Eindrucks. I do You prangt als imperativer Ausstellungstitel in schwarzen Lettern auf der Spiegelplatte und verspricht bereits vor Betreten der Ausstellung einen mehrdeutig radikalen Versuch der Inbesitznahme.

Nach sechsjähriger Sanierung etabliert die Neue Nationalgalerie mit jeder kuratorischen Entscheidung den kulturpolitischen Tenor des Hauses. Zu sehen ist mit I do You die dritte große Soloshow seit Wiedereröffnung 2021 – zwei davon zeigen weibliche Positionen. Ein deutliches Zeichen will man meinen, gab es doch insgesamt lediglich sechs große weibliche Soloschauen seit der Eröffnung des Hauses 1968. Mit Monica Bonvicini wählen die Kurator:innen Joachim Jäger und Irina Hiebert Grun zudem eine explizit feministische künstlerische Position, die dafür steht, überholte Kriterien und festgefahrene Strukturen zu destabilisieren und institutionelle Strukturen kritisch zu hinterfragen – Machtumkehr als Sinnbild des Neustarts. Fraglich ist, ob die Werkauswahl diese Ambitionen erfüllen kann, setzt man hier doch vor allem auf Altbewährtes. Bonvicinis Arbeit charakterisiert sich durch die bauliche Intervention vorgefundener Räume anhand von Grenzverschiebung, das Errichten von zusätzlichen Ebenen oder die perspektivische Verzerrung durch spiegelnde Flächen. I do You präsentiert sich als konsequente Fortführung dieser bereits erprobten Ansätze. Auch zentralisiert die Ausstellung Bonvicinis wiederkehrende kritische Reflektionen wie die Beziehung von Architektur und Geschlechterrollen, Machtstrukturen, die Kodierung von sozialen Räumen und die Rolle der Menschen in ihnen. Der umfassende Einblick in die spektrale Bandbreite der Künstlerin, den skulpturale Objekte und performative Video- und Soundarbeiten aus den 1990er Jahren bis heute geben, hat ein retrospektives Moment, das


Monica Bonvicini, Upper Floor, 2022, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie, 25.11.2022–30.04.2023, © Copyright the artist, VG-Bild Kunst, Bonn, 2024 / Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Foto: Jens Ziehe



Mit der raumgreifenden Installation Upper Floor (2022) gelingt es Bonvicini, die effektvolle architektonische Aneignung der männlich konnotierten Repräsentationsarchitektur sowie die sich körperlich auswirkende Grenzsetzung von I do You im Innenraum wirkungsreich fortzusetzen. Das begehbare Podest redefiniert die Raumstruktur: Es begrenzt die Fläche und verfestigt die Transparenz des Glasbaues. Die an der Vorderseite angebrachte Spiegelfolie irritiert mit dem trügerischen Eindruck von Weite. Die Orientierung in der sonst klar und offen strukturierten Haupthalle der Neuen Nationalgalerie verunmöglicht sich, wenn die Spiegelfront mit den unruhigen Einblicken in die Rückwand und Gerüststruktur der Spiegelplatte I do You das Außen ins Innen verlagert.

Upper Floor erinnert an frühere Arbeiten der Künstlerin, wie den Aluminium Kubus I Cannot Hide My Anger (2019).1 Anders als dieser bildet die errichtete Plattform jedoch keine unüberwindbare architektonische Festung, sondern gestaltet sich weniger radikal als Raum im Raum, der neue Perspektiven eröffnet. Beim Versuch, diesen Raum zu erreichen, ist man jedoch zum Umschreiten des Kubus gezwungen – ein abgeschwächter Hinweis auf die Macht, die Architektur auf den Körper ausüben kann. Die Außenwände dienen nicht nur der physischen Ausgrenzung, sondern auch der Präsentation. Die an der Vorderseite angebrachte Spiegelfolie konfrontiert die Besucher:innen mit ihrer eigenen Präsenz – macht sie zum Objekt der Betrachtung und gibt so bereits eine Vorahnung auf die Aufhebung etablierter Rollenverteilungen im Ausstellungsgeschehen. Die Rückseite des Podests, verglast mit den grünlich angelaufenen Original-Fenstergläsern der Neuen Nationalgalerie, lässt tiefe Einblicke in die verwobene Gerüststruktur zu. Ein architektonisches ‚Behind the Scenes‘, das die perfektionistische Struktur des Mies van der Rohe Baus untergräbt.

Mit Betreten der subtil schwankenden Podestfläche eröffnet sich den Besucher:innen ein Anti-Ort, der Körperlichkeit zentralisiert und dem unterkühlten Glasbau etwas Wohnliches und Belebtes entgegenzusetzen ersucht. Ausgelegt mit dem gekachelten Kunststoffteppich Breach of Decor (2020-2022), der bedruckt ist mit Fotos von Bonvicinis achtlos oder eilig abgestreiften Jeanshosen, verlagert sich das Private und Intime in den öffentlichen Raum der institutionellen Ausstellungsarchitektur. Diesen Ausdruck von Belebtheit eines Hauses nach einem Zitat von Andy Warhol als einen „Bruch im Dekor“ zu benennen, steht für Bonvicini bildhaft für die verquere Weise, in der in den makellos ästhetischen, männlichen Architekturen mit Körpern umgegangen wird. Bonvicini kommentiert diese Diskrepanz, indem sie die Ausstellungsbesucher:innen auffordert, in den konfrontativen Dialog mit Architekten wie van der Rohe zu treten, Aspekte der Machtumkehr am eigenen Körper zu erleben und den institutionellen Raum durch Interaktion und Partizipation zurückzuerobern und neu zu besetzen.

So laden die Chain Swings (2022) je zwei Besucher:innen ein, in ihnen Platz zu nehmen und den Raum mit dem Klirren stählerner Kettenglieder akustisch zu aktivieren. Aus liegender Position heraus lässt ein umschweifender Blick das Bröckeln der etablierten Machtgefüge und sozialen Normen des institutionellen Raumes erkennen. Menschen sitzen ungezwungen auf dem Boden oder lehnen sich formlos an die ikonischen grünen Marmorschächte, Kinder rasseln exzessiv mit den Ketten. Das grellweiße Leuchten der Neonröhren Light Me Black (2009) bildet, wie die glühenden Holzscheite eines Lagerfeuers, das Zentrum der lockeren Zusammenkunft.

Gleichzeitig überspitzt Bonvicini mit Light Me Black die natürliche Lichtfülle des Raumes in ein störendes Extrem. Die physische Anziehung der künstlichen Lichtquelle resultiert bei jedem Versuch der Betrachtung in einem geblendeten Abwenden. Gewöhnen sich die Augen wieder an ihre Umgebung, bleibt nicht viel vom schönen Schein der Machtumkehr: Das von Bonvicini erzeugte intim-provokante Moment der Wohnzimmeratmosphäre erschöpft sich in der Repetition der Jeansdrucke zum Ornament. Die kraftvolle, gemeinschaftliche Besetzung des Raumes verliert sich im bedeutungslosen Spiel, wenn die dekorativen und partizipativen Aspekte der Arbeiten vordergründig als Kulisse für Instagram Bilder herhalten müssen.


Links: Monica Bonvicini, Breach of Decor, 2020–2022; Rechts: Monica Bonvicini, Light Me Black, 2009, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie, 25.11.2022–30.04.2023, © Copyright the artist, VG-Bild Kunst, Bonn, 2024 / Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Foto: Jens Ziehe




Inmitten der Landschaft für Selbsterfahrung und Teilhabe setzt Ernüchterung ein. Ist die strahlend glänzende Oberfläche der Ausstellung wirklich Ausdrucksform einer dezidierten Institutionskritik oder verhallt die provokante Inszenierung im wirkungslosen Bühnenbild? Und wollen Ausstellungsbesucher:innen überhaupt sinnhafter Teil einer musealen Erneuerungsbewegung, einer Machtumkehr sein? Kann I do You ihnen bieten, was sie brauchen, um sich der Erfahrung vertiefend hinzugeben?              

Aus der perspektivischen Erhabenheit der Plattform lässt sich mit voyeuristischem Vergnügen beobachten, wie gewillte Ausstellungsbesucher:innen die Möglichkeit wahrnehmen, sich vom Museumspersonal entlang der Glasfronten in Ketten You to Me (2022) legen zu lassen. Die Fixierung verspricht eine Selbsterfahrung der Performativität von Skulptur und soll den Besucher:innen einen inneren Diskurs über die eigenen Ängste und Begierden im Kontext der Architektur ermöglichen. Sich selbst der verschärften Schaufenstersituation der frisch sanierten Neuen Nationalgalerie preiszugeben, soll zudem die eingangs angedeutete Rollenumkehr verschärfen und die Besucher:innen zum Gegenstand der Betrachtung objektivieren. Die unterschiedlich langen Ketten gestalten die Erfahrung als niedrigschwellig – sie lassen viel Bewegungsfreiheit zu, geben keine körperlich herausfordernden Positionen vor. Es ist möglich, sich in einem großzügigen Radius zu bewegen, sich zu setzen oder sogar hinzulegen. Die Handschellen werden an nur einer Hand angelegt und erlauben so eine alltägliche, beinahe unbeteiligte Haltung. Die erwartete Schwere und Spannung der Ketten entpuppt sich als reizlos, das erwartete bedrohliche Rasseln als harmloses Klirren. Die Ketten fordern Machtabgabe mit minimalem Einsatz.

Für einen inneren Dialog über die potenziell beängstigende Situation fehlt das explizite Gefühl von Unfreiheit. Manch eine:r zieht daraus seine:ihre Konsequenz, opfert die konzentrierte Schau ins Innen der fotografischen Dokumentation des Außen. Übergangen wird damit die einzige ausdrückliche Auflage der Arbeit: die erbetene Nicht-Nutzung des Mobiltelefons. Einige ziehen der inneren Einkehr die Diskussion mit anderen Ausstellungsbesucher:innen vor. Die Situation der Fesselung bietet ein Sprungbrett für unergiebige intime Fragen nach den präferierten Sexualpraktiken. Außerdem schafft sie Anreiz, die Angeketteten an die Möglichkeit eines grausamen Attentats zu erinnern. Jedoch ermöglicht sie auch einen unerwarteten persönlichen Austausch über innere Ängste und Konflikte. So erzählt ein Ausstellungsbesucher offen von der traumatischen Erfahrung eines Kurzaufenthaltes in einem bolivianischen Gefängnis – sich hier anketten zu lassen, das wäre nichts für ihn. Die im Austausch entstehenden Bilder und Emotionen beleben die Erfahrung tatsächlich um einen reflektiven Moment über Selbstbestimmung, über Macht(-verlust), über die Einflussnahme von Raum auf den menschlichen Körper. Die intimen Offenbarungen übergehen dabei die fehlende Schlagkraft der performativ-skulpturalen Aspekte der Arbeit und ermöglichen eine gemeinschaftliche Kraftumkehr des institutionellen Raumes zum Reflektionszentrum.

Die erfrischend drastisch-konsequente Videoarbeit Hausfrau Swinging (1997) entzieht sich räumlich dem Betrachtungsfokus. In einem kleinen Kabinett, versteckt hinter einer Theke mit ausstellungsbegleitendem Material, zeigt ein Röhren-Bildschirm eine nackte Frau, ihr Kopf umschlossen von einem Haus aus Pappe. In einem (auto-)aggressiven Versuch der Befreiung rammt sie ihren Kopf immer wieder gegen die Wand. Laute Schläge sind Ausdruck eines unermüdlichen Zerstörungswillens, eines unnachgiebigen Engagements zur Veränderung, das in seiner Intensität den Maßstab der Ausstellung hätte setzen können.

Die architektonischen Interventionen leisten mit herausragender Wirksamkeit, was von ihnen erwartet wird – sie fragmentieren und manipulieren den Raum, desorientieren die Besucher:innen und untergraben die strukturalen Prinzipien der Architektur folgenreich. Auch lebt I Do You von der Zugänglichkeit und Niedrigschwelligkeit der partizipativen Aspekte – man kann sich des Eindrucks nicht verwahren, hier einer geschickten Inszenierung zur Öffnung dieses selbst-isolatorisch-erhabenen Tempelbaus von einem Museum zu einem integrativen Reflexionsraum für jederfrau beizuwohnen. Und doch bleibt das unterschwellige Verlangen nach mehr: Aktion, Reaktion – Intervention, Partizipation, Dekonstruktion. Ist eine solche Formel denn überhaupt realisierbar? In Anbetracht des im Raum schwebenden Geistes des institutionellen Neuanfanges fühlt es sich an wie eine Machtumkehr auf Vertrauensbasis, ein strukturaler Abriss auf Anfrage. Fast kalkulierbar ist die Inszenierung, die, merkwürdig beherrscht und die nötige Radikalität vermissend, gerade so viel gibt, wie die Besucher:innen vertragen und die Institution erwartet. Die im Ausstellungstitel I do You angekündigte radikale Aneignung des architektonischen Raumes vergeht in der Ambiguität ihrer Formulierung. Sie bleibt letztlich vorlaute Deutung eines hier offenkundig werdenden Geflechts, in dem eben gerade Institution und Ausstellungsbesuchende die Künstlerin machen, ihrer Arbeit Schlagkraft nehmen und geben. Mit den verbleibenden Fragen im Kopf, ob eine konsequentere Objektifizierung der Besucher:innen die sozialen Normen des Ausstellungsraums wirkungsreicher hätte brechen oder fordernde partizipative Aspekte eine tiefere Auseinandersetzung mit den Realitäten des Gebäudes in den Besucher:innen erwirken können, verlässt man die Ausstellung und kann nur empfehlen: Erfahren Sie es am besten selbst.


Martina Kutsch ist Kunsthistorikerin mit einem Bachelor in Kunst- und Bildgeschichte sowie Philosophie von der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr interdisziplinäres Forschungsinteresse konzentriert sich auf die Ontologien der (Un-)Materialität in der zeitgenössischen Kunst, insbesondere auf deren performative und partizipative Aspekte. Martina schließt derzeit ihren Master in Kunstgeschichte an der Freien Universität ab, arbeitet in der Galerie Sprüth Magers und ist als wissenschaftliche Hilfskraft tätig.





1 Cannot Hide My Anger war Teil der gleichnahmigen Ausstellung im Belvedere 21 Museum of Contemporary Art in Wien. Der nicht begehbare Aluminiumkubus besetzte als negativer Raum den Ausstellungsort, seine verzerrte Spiegelung sorgte für Fragmentierung und Desorientierung.


Journal der Freien Universität Berlin

Berlin, 2024