Porträts und ihre Entbehrlichkeit
von Ähnlichkeit


von Johannes Sange

Kaum eine Gattung wird in der Kunst mehr mit dem Thema der Ähnlichkeit in Verbindung gebracht als das Porträt. Beim Betrachten eines Porträts neigen die Rezipient:innen häufig dazu, nach einer Übereinstimmung zwischen dem Abbild und der Realität, auch bekannt als Porträtäquivalenz, zu suchen. Nur allzu oft sind sie der Auffassung, diese auch zu finden. Bei dem Bildnis Gertrude Stein, das Pablo Picasso (1881–1973) 1906 anfertigte, war dies zunächst nicht der Fall. Jeder habe ihm gesagt, dass es Stein (1874–1946) nicht ähnlich sehen würde, woraufhin Picasso geantwortet haben soll: „[...] but that does not make any difference, she will […].“1 Er sollte Recht behalten.

Sehen wir uns heute eine Aufnahme Man Rays (1890–1976) an, die dieser 1922 von Gertrude Stein vor ebenjenem Porträt anfertigte, so wird kaum jemand behaupten, dass das Bildnis von Picasso eine andere Person zeigen könnte als eben die, die auf dem Foto unmittelbar davorsitzt.


Man Ray „Gertrude Stein con un ritratto di Picasso“ 1922 © Man Ray 2015 Trust/ VG Bild-Kunst, 2024


Aber wie erkennen wir auf der planen Fläche eines Gemäldes das Abbild eines realen Menschen? Und wie können wir in verschiedenen Porträts ein und denselben Menschen wiedererkennen, wenn diese sich hinsichtlich ihres Mediums, der materiellen Strukturen und vielleicht sogar des Stiles komplett unterscheiden?

An dieser Stelle kommt es häufig zu dem Fehlschluss, dass Ähnlichkeit für das Erkennen der porträtierten Person notwendig ist. Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Ähnlichkeit genau dann vorliegt, wenn das Porträt mit der Person nur eine möglichst große, aber keine gänzliche Übereinstimmung der Eigenschaften aufweist. Hierbei wird auf den Begriff der Ähnlichkeit im Sinne der Nachahmung zurückgegriffen, dass also die dinglichen Aspekte eines Objektes in einem Kunstwerk kopiert werden und so eine Symmetrie zwischen beiden erzeugt würde. Zusätzlich mangelt es dabei oft an einer Unterscheidung zwischen materiellen Eigenschaften wie beispielsweise physiognomischen Merkmalen und ideellen Attributen wie Eleganz, Tiefsinnigkeit, Weisheit oder Lebensfreude. Dies erwächst vermutlich aus dem Bedürfnis der Rezipient:innen, nicht nur das Äußere, sondern gleichzeitig auch eine Psychologisierung der Person vermittelt zu bekommen. Um jedoch zu erkennen, wen ein Porträt überhaupt darstellen soll, ist zu klären, auf wen das Kunstwerk Bezug nimmt und wie diese Bezugnahme bei den Rezipierenden abläuft bzw. erkannt wird.

Als einer der ersten Theoretiker:innen geht der amerikanische Philosoph Nelson Goodman (1906–1998) davon aus, dass Ähnlichkeit für die Klärung der Bezugnahme eines Kunstwerks irrelevant ist. Mit diesem Ansatz entwickelte er nicht nur seine Symboltheorie Sprachen der Kunst, die neben Bildern unter anderem auch Wörter, Tanz und Töne als Symbole einschließt. Darüber hinaus erklärt er, warum sich das Empfinden von einer vermeintlichen Ähnlichkeit, wie im genannten Beispiel von Gertrude Stein, im Laufe der Zeit verändern kann. In seiner Auffassung denotieren Symbole wie das Porträt von Picasso und die Fotografie von Ray in der Regel etwas Anderes als sich selbst, indem sie sich darauf beziehen. Die Denotation beschreibt also die Funktion eines Symbols, etwas anderes als sich selbst zu repräsentieren. Oder mit Goodmans Worten: Denotation ist der Kern der Repräsentation und unabhängig von Ähnlichkeit.“2

Goodman geht bei den abbildenden Künsten zwar hauptsächlich von der Malerei aus, seine Argumentation lässt sich jedoch auch auf Bereiche wie die künstlerische Fotografie oder die Bildhauerei anwenden. Für ihn ist Ähnlichkeit kein notwendiges Merkmal für den Wiedererkennungswert bzw. den Wert der Bezugnahme eines Kunstwerks. Bereits die Verbindung der beiden Begriffe ‚Repräsentation‘ und ‚Ähnlichkeit‘ birgt Schwierigkeiten. Goodman verdeutlichte dies durch den Hinweis, dass zwei Objekte einander zwar in gleicher Weise ähnlich sein können (symmetrisch), aber keines der beiden Objekte das jeweils andere repräsentieren muss. Hinzu kommt, dass ein Objekt am meisten Ähnlichkeit mit sich selbst aufweist (reflexiv), aber selten ein Symbol für sich selbst darstellt.3 Ein Mensch und das Porträt dieses Menschen können also einander zwar durchaus ähnlich sehen, aber wird Gertrude Stein nie eine Repräsentation des Gemäldes von Picasso sein, sondern das Gemälde immer den Menschen repräsentieren.

Im Foto von Man Ray wird genau dies deutlich. Das Foto zeigt Gertrude Stein und es zeigt Picassos Gemälde, welches wiederum Gertrude Stein zeigt. Dadurch ist das Foto weniger ein Doppelporträt als mehr ein Bild im Bild bzw. eine Repräsentation in einer Repräsentation. Ein Doppelporträt bezieht sich auf zwei Personen bzw. denotiert sie. In diesem Fall wird jedoch nur eine Person (nämlich Gertrude Stein) und ein zusätzlicher Gegenstand denotiert, der nochmal dieselbe Person denotiert. Zudem manifestiert die Fotografie auf ihrer ebenen Oberfläche eine Bildrealität, die eigenen Gesetzen unterliegt, wie etwa dem Fehlen von Farbe. Dadurch unterscheidet sie sich von der Realität der Betrachtenden. Das Gemälde beansprucht wiederum innerhalb der Fotografie seine eigene Bildrealität, die sich in ihrer Eigengesetzlichkeit hinsichtlich der abstrahierenden Darstellungsweise von Gegenständen und Räumlichkeit vom Rest der Fotografie unterscheidet. Zusätzlich wird diese Bildrealität durch einen Bilderrahmen von der innerbildlichen Realität des übrigen Fotos abgegrenzt.4 Man Rays Aufnahme ist dadurch eine vertiefende künstlerische Reflexion der Tatsache, dass Abbildungen mit den Originalgegenständen, auf die sie Bezug nehmen, nicht identisch sind.
Es könnte jedoch argumentiert werden, dass das Foto nicht nur in Teilen eine Repräsentation des Gemäldes von Picasso und in Teilen eine Repräsentation von Gertrude Stein ist, sondern im Ganzen eine Repräsentation der künstlich geschaffenen Ähnlichkeit zwischen den beiden darstellt. Ray gelingt nämlich durch das gezielte Ausleuchten des Gesichts Steins die Fixierung einer ähnlich maskenhaft wirkenden Physiognomie, wie es Picasso zuvor in seinem Porträt gelang. Der Fotograf erzeugt auf seiner Fotografie also eine Ähnlichkeit zwischen Stein und dem Porträt von Picasso. Durch die zuvor erwähnte Symmetrie des Ähnlichkeitsphänomens spielt es keine Rolle, ob Stein optisch dem Porträt angepasst wurde oder es andersrum war. Im Ergebnis ist Stein auf der Fotografie dem Gemälde genauso ähnlich, wie das Gemälde Stein ähnlich ist. Das Ähnlichkeitsverhältnis ist in beide Richtungen dasselbe. Stein wird dadurch jedoch nicht zu einem Symbol des Gemäldes, nur weil die Ähnlichkeit zwischen ihnen nun größer ist als vorher.5

Das bereits erwähnte Kopieren von Aspekten eines Objektes, um so eine Ähnlichkeit herzustellen, was hier in Form physiognomischer Annäherung stattfand, erachtet Goodman für das Erstellen einer gelungenen Repräsentation als wenig zielführend. Ein Objekt besitzt eine Vielzahl an Eigenschaften, die es ausmachen wie beispielsweise dessen physische Beschaffenheit. Das Kopieren dieser Eigenschaften oder Aspekte ist für die Repräsentation nicht nur unnötig, sondern teilweise auch unmöglich.6

Am Beispiel des Porträts lässt sich die damit verbundene Schwierigkeit einfach benennen: Ein Mensch besitzt unter anderem die Eigenschaften, dreidimensional und ein biologischer Organismus mit einer zellulären Struktur zu sein. Damit Picassos Porträt jedoch als Repräsentation von Gertrude Stein gelten kann, muss der Maler weder ihre Dreidimensionalität noch ihre biologischen Aspekte im Kunstwerk kopieren.

Was nach Goodman hingegen in einem Symbol wiedergegeben werden muss, ist eine bestimmte Eigenschaft, manchmal auch mehrere, wie ein Objekt ist oder genauer wirkt. Welche Eigenschaft das ist oder wie diese wiedergegeben werden müsste, hängt wiederum von subjektiven Faktoren des oder der Kunstschaffenden hinsichtlich der bewussten Selektion im kreativen Schaffensprozess ab. Aber auch die subjektiven Faktoren der Rezipierenden bezüglich des wahrgenommenen Eindrucks und der Entschlüsselung nach vorgeprägten Mustern spielen eine entscheidende Rolle. Hier folgt Goodman der Argumentation Ernst Gombrichs (1909–2001), dass es so etwas wie ein „unschuldiges Auge“ nicht gebe.7 Jeder Mensch wird zeitgleich durch seine Sinne und mehr noch durch seine Vergangenheit, seinen kulturellen Hintergrund und seinen eigenen Verstand wie auch seine Bedürfnisse im Sehen geprägt. So wird das Auge darin reguliert, was es überhaupt wahrnimmt und wie es das wahrnimmt bzw. wie aufgenommene Informationen weiterverarbeitet werden. Hierbei kommt es zu einem Zusammenspiel des organischen Auges mit dem geistigen Auge. Ersteres wird z. T. durch Vorprägungen und Gewohnheiten beim Sehen gelenkt, während Letzteres diese bereits selektierten Informationen nach gewohnten Mustern deutet oder verwirft. Die Wahrnehmung „erfasst und erzeugt“ dadurch eher Konzepte, als dass es diese objektiv widerspiegelt.8

Diese Relativität des Sehens sorgt dafür, dass es beim Erstellen von Symbolen durch Künstler:innen nicht darum geht, die Aspekte von Objekten zu kopieren. Es geht darum, wiederzugeben, wie diese Objekte subjektiv betrachtet oder begriffen werden. Bei der Repräsentation stellt die durch den oder die Künstler:in wiedergegebene Sichtweise demnach keine Kopie der objektiven dinglichen Eigenschaften des abzubildenden Objektes dar. Es geht folglich auch nicht darum, die objektiven physiognomischen Eigenschaften einer Person widerzuspiegeln. Es geht beim Erstellen der Repräsentation vielmehr um die Herstellung einer subjektiven Interpretation dieser Eigenschaften.9

Unabhängig von der künstlerischen Intention entwickelt sich so auch der Erkenntnisvollzug für die Betrachtenden. Beim Sehen eines pikturalen Symbols, wie hier das Porträt Gertrude Steins, wird dieses zugleich selbst im Geist der betrachtenden Person konstruiert. Dabei werden die aufgenommenen Merkmale unter den bereits geschilderten subjektiven Eindrücken gedeutet.  Bei einem naturalistisch gemalten Bild neigen Betrachtende dazu, eine größere Ähnlichkeit auszumachen als bei einer expressionistischen Interpretation desselben Gegenstandes. Dabei wirft auch das naturalistische Bild nur unter sehr spezifischen Bedingungen ein Lichtstrahlenbündel auf das menschliche Auge, das dem des realen Gegenstands entspricht.

‚Diese Entsprechung ist eine rein objektive Angelegenheit, die sich durch Instrumente messen lässt. Und eine solche Entsprechung konstituiert die Treue der Repräsentation; denn da das Auge sowohl vom Bild als auch vom Gegenstand nichts als Lichtstrahlen empfangen kann, muss Identität im Muster der Lichtstrahlen Identität der Erscheinung konstituieren.‘10

Diese Treue ist lediglich eine Art Maß zur Angabe des Wahrheitsgehalts eines Symbols gegenüber der Realität.11 Das heißt, es gibt an, ob die bildlich vermittelten Eigenschaften auch tatsächlich im realen Objekt vorliegen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Eigenschaften im Kunstwerk ebenfalls tatsächlich (im Sinne einer tatsächlichen Ähnlichkeit) vorliegen oder durch eine symbolhafte Codierung authentisch vermittelt werden. Die Treue eines Bildes kann demnach nicht ausschließlich über die Identität im Muster der Lichtstrahlen, sondern auch über eine interpretierte Darstellungsweise, die zu einer Abweichung im Muster der Lichtstrahlen führt, konstituiert werden. So oder so ist die Treue keinesfalls eine hinreichende Bedingung für Repräsentation.

Außerdem ist die nötige Betrachtungssituation, um eine derartige Übereinstimmung der Lichtstrahlen zu erreichen, sehr konstruiert, wenn nicht gar fiktiv. Das organische Auge müsste unbewegt auf einen Punkt des Objektes gerichtet sein und durch ein ‚Guckloch‘ schauen, um die Umgebung auszublenden.

Hinzu kommt, dass Bilder – besonders Gemälde – sich für gewöhnlich durch einen Rahmen von ihrer Umwelt abgrenzen. Während die Betrachtenden also frei umhergehen und die Augen bewegen können, hängt das Gemälde selten auf der passenden Höhe, damit die gemalter Perspektive mit ihrer individuellen Augenhöhe übereinstimmt.12

Beim Codieren und Umwandeln von subjektiven Eindrücken der Künstler:innen in denotative Symbole, handelt es sich um ein zeichenhaftes Vermitteln von Informationen, für dessen Übersetzung eine Art kultureller Schlüssel gebraucht wird. Goodman folgert daher:

Die Aufgabe des Künstlers bei der Repräsentation eines vor ihm befindlichen Gegenstandes besteht vielmehr darin, zu entscheiden, welche Lichtstrahlen unter Galeriebedingungen das wiederzugeben vermögen, was er sieht. Das ist keine Frage des Kopierens, sondern des Vermittelns. Es ist eher eine Frage des 'Einfangens einer Ähnlichkeit' als des Duplizierens – in dem Sinne, dass eine Ähnlichkeit, die einer Fotografie verlorengeht, in einer Karikatur eingefangen wird. Eine Art von Übersetzung, die Unterschiede in den Umständen kompensiert, ist daran beteiligt.13

Goodman benutzt hier Fotografie lediglich als Beispiel für eine Abbildung mit einem hohen Treue- und Realismusgehalt. Obwohl er eine Bedeutung der Ähnlichkeit für die Denotation ablehnt, scheint er an dieser Stelle auf einen anderen Begriff von Ähnlichkeit zu verweisen, ohne ihn näher zu definieren. Dieser Zusammenhang von Karikatur und Ähnlichkeit wird von Gombrich in seinem Aufsatz Maske und Gesicht stärker herausgearbeitet. Zum einen geht es bei der Karikatur oft um die Wiedergabe einer aufgelegten ‚Maske‘ im Sinne einer gesellschaftlichen Rolle oder eines charakteristischen Stereotyps, die leicht verständlich ist, aber gleichzeitig die physiognomischen Merkmale überdeckt.14 Zum anderen handelt es sich bei der empfundenen Porträtäquivalenz um einen dargestellten Ausdruck des repräsentierten Menschen, der lediglich als ähnlich empfunden wird, obwohl objektiv keine Ähnlichkeit vorliegt.15

Man Rays Fotografie mag nun also dafür sorgen, dass wir eine vermeintliche Ähnlichkeit zwischen Gertrude Stein und Picassos Porträt empfinden. Bei genauerem Vergleich der beiden stellen wir jedoch fest, dass beispielsweise der jeweilige Abstand und Winkel der Augen zueinander oder auch der Verlauf des Mundes nicht übereinstimmen.

Für die von Goodman angeführte Übersetzung spielen eine Vielzahl an Faktoren eine entscheidende Rolle. So kommt es erneut nicht unerheblich auf die subjektiven Erfahrungen wie auch auf die gesellschaftlich geprägten Sehgewohnheiten der betrachtenden Person an. Es darf nicht vernachlässigt werden, dass die Darstellungsweise, die Picasso für Gertrude Stein 1906 wählt, eine für die damalige Zeit sehr ungewöhnliche ist. Die von ihm angewendete Abstraktion führt zu einem wesentlich flächigeren Malstil und verleiht der Darstellung ein starres Aussehen, zum Nachteil der Treue gegenüber dem realen Antlitz Steins. Anders ausgedrückt werden also ihre physiognomischen Eigenschaften vom Maler interpretiert und mittels des abstrakten Malstils auf einer zweidimensionalen Fläche neu vermittelt, was von den Betrachtenden ein anderes Sehverständnis erfordert.

Das dadurch leblos wirkende, maskenhafte Gesicht befremdete die zeitgenössischen Betrachter:innen, die womöglich noch die Fotografien nach dem Leben und die leichter zu entschlüsselnden und lebendiger wirkenden Bilder früherer Stile gewohnt waren.

Von Gombrich wird behauptet, dass Porträts aber genau dann am wirkungsvollsten einen Menschen repräsentieren können, wenn sie diesen eben nicht mit einer getreuen Wiedergabe seiner Physiognomie darstellen. Er schreibt außerdem, dass wir andere Menschen anhand eines „dominierenden Ausdrucks“16 in ihrem Gesicht durch alle mimischen Verzerrungen desselben wiedererkennen und überträgt dieses Phänomen auf Karikaturen und Porträts.17 Wiedererkennbare Porträts weichen demnach oft von den genauen physiognomischen Eigenschaften der Porträtierten ab, was am deutlichsten in Karikaturen zum Vorschein kommt. Gleichzeitig gelingt es den Künstler:innen, einen Eindruck dieses dominierenden Ausdrucks bei uns hervorzurufen, ohne ihn tatsächlich festzuhalten oder eine tatsächliche Ähnlichkeit herzustellen.

Die in einem Bild verarbeiteten Informationen müssen unabhängig von dessen Grad der Treue erst korrekt ‚gelesen‘ werden „[...] und diese Fähigkeit zu lesen muss [durch Erfahrung, Übung und Gewohnheit – Anm. d. Verf.] erworben werden.“18 Etablierte Deutungsregeln können dabei so eingeübt sein, dass sie quasi automatisch und nahezu unbewusst ablaufen.

Die Anzahl der im Bild wiedergegebenen Informationen spielt für die Leichtigkeit der Entschlüsselung keine Rolle. Das Lesen des naturalistischen Bildes fällt uns jedoch aufgrund der gesellschaftlich und kulturell bedingten geläufigeren Darstellungs- bzw.  Codierungsweise leichter. Diese „repräsentationalen Gewohnheiten“, wie sie Goodman auch nennt,19 sorgen also mitunter dafür, dass bei uns mitunter lediglich der Eindruck von Ähnlichkeit erzeugt wird, obwohl Ähnlichkeit im Sinne von Übereinstimmung nicht vorliegt. Mit Goodmans Worten: „Daß ein Bild wie die Natur aussieht, bedeutet oft nur, daß es so aussieht, wie die Natur gewöhnlich gemalt wird.“20 Diese Gewohnheit und damit die Leichtigkeit der Entschlüsselung von Informationen und nicht ihre Quantität markiert für Goodman den Grad des Realismus einer Abbildung, wodurch er gleichzeitig vom kunsthistorischen Realismus-Begriff abweicht. Damit kennzeichnet er Realismus als einen relativen Wert in Abhängigkeit von den Rezipient:innen und deren Interpretationsregeln.21 Eine geläufige Repräsentation, bspw. in einem bereits bekannten und häufig gesehenen Stil, zeichnet sich demnach durch einen höheren Grad an Realismus aus als eine ungewohnte. Während die Treue Auskunft über die Authentizität der Repräsentation gibt, vermittelt der Realismus ihre (Un-)Gewöhnlichkeit. Goodmans Argumentation ist allerdings kein Plädoyer für das strikte Einhalten etablierter Darstellungsformen und Stile, um ein gelungenes Symbol herzustellen. Gerade hinsichtlich einer wirkungsvollen Repräsentation kann die Verbindung von etablierten Sehgewohnheiten mit neuen Darstellungsweisen äußerst wertvoll sein. Wenn wir ein Bild vom Sujet her zwar zuordnen können, es sich in der Weise der Wiedergabe aber von den bisherigen abhebt, „[...] dann kann es vernachlässigte Ähnlichkeiten oder Unterschiede zutage fördern, ungewöhnliche Verbindungen festigen und im gewissen Ausmaß unsere Welt neu erzeugen.“22 Eine derartige Etablierung gelingt Picasso 1906 mit dem Porträt Gertrude Steins. Er erreicht eine für damalige Verhältnisse neue Art der Wiedergabe, die zur Betonung eines ernsteren und tiefsinnigeren Wesenszuges führte, als es in den bisherigen Darstellungen ihrer Person üblich war. Die Charakterisierung und Psychologisierung stehen damit vor der detaillierten Wiedergabe der Physiognomie. Mittlerweile sind wir das Sehen expressiver und abstrakter Abbildungen gewohnt, weshalb sein Porträt die meisten Menschen wohl nicht mehr befremdet.

Unsere Wahrnehmung kann trügen. Nur weil wir Ähnlichkeit empfinden, heißt es nicht, dass diese auch tatsächlich vorliegt und gleichzeitig schließt sich beides nicht aus. Goodman wie auch Gombrich bestreiten nicht, dass mittels Ähnlichkeit im Sinne des Übereinstimmens von Eigenschaften oder des getreuen Abbildens derselben eine wirkungsvolle Repräsentation möglich ist. Um jedoch zu erkennen, wen ein Porträt darstellt bzw. wen es denotiert, ist tatsächliche Ähnlichkeit entbehrlich. Eine wesentliche Rolle für unser Erkennen spielt dagegen das Antizipieren unseres gewohnten Sehens. Dies ist wiederum davon abhängig, wie wir es gewohnt sind, beispielsweise dreidimensionale Körper und Mimiken auf zweidimensionalen Flächen dargestellt zu bekommen und wie wir diese Darstellungen gewöhnlich interpretieren. Ebenso hängt es davon ab, wie es den Künstler:innen gelingt, eben diese physiognomischen Eigenschaften mit ausgewählten Darstellungsmitteln zu codieren. Eventuell wird über dieses Zusammenspiel von Codierung und Interpretation sogar eine weitere Konnotation des äußeren Erscheinens mit ideellen Attributen geschaffen, wie das Beispiel der visuellen Charakterisierung von Gertrude Stein zeigt. Ein solcher Fall führt zu einer in der Kunst oft geforderten und in der Kunstgeschichte hoch geschätzten Psychologisierung des Porträts, die Picasso hier zweifelsohne gelang.


Johannes Sange studierte Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Greifswald und absolvierte anschließend ein Volontariat bei den Kunstsammlungen Chemnitz. Hier kuratierte er sowohl analoge wie auch digitale Ausstellungen und wirkte seither an mehreren Publikationen mit. Seit 2017 ist er Inhaber des Bogislaw-Stipendiums für seine Promotion an der Universität Greifswald, die sich mit dem Maler Georg David Matthieu und der ästhetischen Rezeptionsweise seiner Porträts auseinandersetzt. Seine Arbeit ist geprägt durch die Verbindung aus Kunstgeschichte, Philosophie und praktischer Museumserfahrung im Umgang mit Kunst.



1 Pablo Picasso zitiert nach Gertrude Stein; in: Gertrude Stein, The Autobiography of Alice B. Toklas (Penguin Books, London 1983), 16.
2 Nelson Goodman, Sprachen der Kunst: Entwurf einer Symboltheorie (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, basierend auf der 2. Auflage 1976), 17.
3 Vgl. ebd., 15–17.
[4] Siehe zur Abgrenzung von eigengesetzlichen Bildwelten durch Bilderrahmen auch: Georg Simmel: „Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch“ in: Georg-Simmel Gesamtausgabe, Bd. 7, Hg. Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995), 101-108.
[5] Mit dieser Argumentation ist nicht ausgeschlossen, dass in speziellen Fällen ein Foto von Gertrude Stein oder eine Performance von ihr, in der sie beispielsweise das Gemälde von Picasso nachstellt, eine Repräsentation des Gemäldes sein könnte. Aber auch in diesen Fällen wäre das Foto bzw. die Performance die jeweilige Repräsentation und nicht Gertrude Stein selbst.
[6] Vgl. Goodman, Sprachen der Kunst, 20.
[7] Vgl. ebd., 19. Siehe hierzu auch: Ernst H. Gombrich, Kunst & Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, 6. Aufl. (Phaidon Verlag, Berlin 2002).
[8] Vgl. Goodman, Sprachen der Kunst, 18–19.
[9] Vgl. ebd., 20.
[10] Ebd., 22–23.
[11] Vgl. ebd., 44.
[12] Vgl. ebd., 23–24. Selbiges dürfte mehr oder weniger auch auf digitale Bilder beispielsweise auf unseren Smartphones zutreffen. Wir halten die Geräte selten so, dass die bildinhärente Perspektive mit unserer realweltlichen übereinstimmt.
[13] Ebd., 25.
[14] Vgl. Ernst Gombrich, „Maske und Gesicht: Die Wahrnehmung physiognomischer Ähnlichkeit im Leben und in der Kunst“ in: Ernst H. Gombrich, Julian Hochberg, Max Black, Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit, 10. Aufl., (Suhrkamp, Frankfurt am Main 2017), 10–60, hier 19–22.
[15] Vgl. ebd., 38.
[16] Ebd., 40–42 und 58.
[17] Ebd., 10.
[18] Goodman, Sprachen der Kunst, S. 25.
[19] Vgl. ebd., 47.
[20] Ebd.
[21] Vgl. ebd., 46–47.
[22] Ebd., 42.



Journal der Freien Universität Berlin

Berlin, 2024