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Wie Paare performen


von Johanna Luisa Müller



“Not enough has been made of the existential alienation that can come for women in that first year of marriage. Both Virginia [Woolf] and Viv [Elliott] experienced this debilitating depression. […] They were expected to leave the house they grew up in, change their names, and be suddenly not their own sovereign person but a ‘wife-of’.”1

(Kate Zambreno, Heroines)

“Sometimes I feel I am living with the Enemy. Sometimes I know I am living with the Enemy.”2
(Kate Zambreno, Heroines)



Während meiner Covid-Infektion im März 2022 habe ich Kate Zambrenos Buch Heroines gelesen. Als ich sozial isoliert war, las ich über Liebesbeziehungen, genauer: ausbeuterische Liebesbeziehungen zwischen Künstler:innen des 20. Jahrhunderts. Autofiktionale und literaturhistorische Ebenen vermischend, beschreibt die Autorin Künstler:innen-Ehen von Zelda und Scott Fitzgerald oder Viv und T.S. Elliott. Dabei verfolgt Kate Zambreno die Geschichten der künstlerisch arbeitenden, jedoch in ihrer Arbeit verhinderten Ehefrauen. Ihre „Heroines“ werden im Privathaushalt isoliert, ihrer Autorinnenschaft beraubt, schließlich pathologisiert und in „Besserungsanstalten“ von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Die Künstler:innen-Ehen beinhalteten die einseitige Ausnutzung der kreativen Gemeinschaft durch die Ehemänner. Sie waren es, die Tagebücher, Ideen oder Lebensgeschichten der Ehefrauen in ihr schriftstellerisches Werk aufnahmen, während die Frauen zunehmend ruhiggestellt und an die Erwartungen ihres „Frau-Seins“ angepasst werden sollten – diese Erwartungen waren unvereinbar mit dem Mythos des Künstlergenies.

Die Lektüre beeindruckte mich nicht nur, weil sie auf intelligente Weise das Schriftsteller:innen-Ich mit einer feministischen Kulturgeschichte zusammenbrachte. Sie führte auch dazu, dass ich Künstler:innen-Paarbeziehungen zu beobachten begann. Dabei stellte ich fest, dass diese Beziehungen im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts kaum weniger relevant für künstlerische Arbeitsweisen waren. Doch wurden die wenig egalitären Künstler:innen-Ehen, die Zambreno beschreibt, zunehmend von neuen Machtdynamiken abgelöst. Künstler:innen-Paare leben nicht mehr vorrangig durch den Ausschluss und die Aneignung der „weiblichen“ Kreativität, vielmehr wird die Paarform selbst zum Gegenstand der künstlerischen Praxis.

Im Sommer 2022 habe ich drei Performance(-Dokumentationen) gesehen, die alle das heterosexuelle Paar zum Zentrum erklärten: Franz Erhard Walthers Aktivierungen von Teilen des 1. Werksatz (1967/1998), Marina Abramovićs und Ulays Breathing In/Breathing Out (1977) sowie Pina Bauschs Vollmond (2006). Sie decken sich mit Beobachtungen, die ich in meinem privaten Umfeld, an mir selbst, auf der Straße oder im Internet machte. Künstler:innen-Paare werden bei Franz Erhard Walther, Marina Abramović/Ulay und Pina Bausch unterschiedlich gezeigt, manchmal sind die Protagonist:innen selbst durch intime Beziehungen verbunden, manchmal nicht. Performt wird aber in allen Fällen das Zusammenkommen von zwei heterosexuellen, weißen Personen, die sich kurz- oder langfristig als Paar formieren. Sie weisen dabei gewisse Merkmale auf, die den Möglichkeitsrahmen von romantischen Beziehungen heute auffächern und die ich als das verletzende Paar, das ringende Paar und das arbeitende Paar analysiere.

Das arbeitende Paar

Zwei Personen, ein Stück Stoff, Für zwei. Ein weißer Raum, eine unaufgeregte Ruhe darin. In Franz Erhard Walthers Werkhandlungen zum 1. Werksatz (1995-1998) sind zwei Personen als Team vereint. Sie wickeln effiziente, entemotionalisierte Abläufe ab. Die Art, wie das Paar bei Franz Erhard Walther aufeinandertrifft, erinnert mich an mittelalte Paare, die gemeinsam ein Hobby betreiben. Ich sehe sie häufig am Wiener Donaukanal auf ultraleichten Carbon-Rennrädern, meist in matching outfits. Sie sind im Sport vereint.

Franz Erhard Walthers 1. Werksatz (1963-1969) besteht aus 58 Objekten, die fast alle aus Stoff hergestellt sind. Die Objekte bedienen ein minimalistisches Formenvokabular, greifen aber auf Grund ihrer Materialität auch Ideen der Anti-Form vorweg. Zudem konnten alle Objekte des Werksatzes performativ aktiviert werden.3 Dazu gab es im Werksatz integrierte Anweisungen. Manchmal war zur Aktivierung nur eine Person nötig, manchmal ein Paar oder eine ganze Gruppe. Am mehrjährigen Herstellungsprozess (es wurden bis 1969 immer wieder Teile hinzugefügt) war Franz Erhard Walthers damalige Ehefrau Johanna Frieß maßgeblich beteiligt, die im Umgang mit Textilien vertraut war.4 Die Forschung zum Beitrag Johanna Frieß’ am Werksatz ist dünn. Meist gilt sie als Ausführerin (Materie) des Werkes, während Walther als Denker (Form) inszeniert wird. Die sexistische Überblendung dieser Historisierung ist kaum zu übersehen.

Performt und auf Video aufgezeichnet wurden 58 Werkhandlungen zum 1. Werksatz in den 1990er-Jahren in Frankfurt am Main und Umgebung. In den Werkhandlungen ist wenig von den sexistischen Überblendungen, die den Herstellungsprozess der Stoffe bestimmte, zu spüren. Das heterosexuelle, weiße Paar kommt bei Walther zusammen, um auszuführen, um funktional zu machen, um zu zeigen.


Franz Erhard Walther, Werkhandlungen (1967/1998), mumok, Wien, 2022. Installationsansicht.


Für zwei (1967) besteht aus einem länglichen Stoffstück, das an beiden Enden jeweils ein ovales Loch besitzt. In der Videoaufnahme aus den 1990er-Jahren sehe ich einen älteren Mann und eine jüngere Frau.5 Sie stehen einander gegenüber, nehmen Für zwei behutsam in die Hand, führen ihre Köpfe durch die ovalen Löcher. Die Frau richtet daraufhin sorgsam die Stoffbahn zurecht, so dass sie keine Falten mehr wirft. Der Mann spricht, offenbar erklärend, zu ihr. Sein mansplaining stört die Simplizität der Performance. Daher genieße ich spätere Szenen, in denen beide nichts sagen und sich einfach aufrecht gegenüberstehen. Das Stoffobjekt determiniert die Position der beiden Personen. Für zwei bindet die Personen aneinander, sie können sich nicht mehr weiter voneinander entfernen als 40 Zentimeter, so weit ist der Abstand der Löcher.6 Die Paarbeziehung ist durch das Objekt gesetzt, ganz im Sinne des Werksatzes. Bei Franz Erhard Walther dominiert eine bereits vorausgeplante, ruhige, „abgekühlte” Verbundenheit – wie bei den Radfahrer:innen, die gemeinsam ans Ziel kommen.

Ich sehe in Für zwei eine Paarbeziehung, die eingespielt, vielleicht sogar entemotionalisiert ist. Das Paar verhält sich zueinander, körperlich, durch Blicke und Gesten. Es arbeitet effizient und ruhig miteinander, weil es – durchaus im Sinne einer Ästhetik der Administration – kühl ausführt, was auf Papier beschrieben ist.7 Sie befolgen die Anweisungen aus dem Werksatz, vereint als Team oder als Partner:innen. Dabei wird ihre Verbundenheit als das, was ich kürzlich bei Julia May Jonas gelesen habe, dargestellt: „[...] depicting love as a kind of jovial camaraderie rather than passion. [They] didn’t even kiss at the end […].”8 Das Paar verliert einen Teil seiner sexiness, gewinnt dafür an Gemeinsamkeit, kollegialer Verbundenheit nach dem Motto, die Partner:in nicht nur zu lieben, sondern auch zu mögen. Das Kollegiale steht bei Walther im Vordergrund: die gemeinsame Durchführung, die in der gelungenen Aktivierung des Werksatzes resultiert. Die performenden Personen nutzen einander, denn nur zusammen kann ihre Werkhandlung gelingen. Die Vereinigung der zwei Personen dient einem bigger goal: dem Erreichen eines (sportlichen) Ziels, einer künstlerischen Aktivierung im musealen Kontext.
Weil das Paar bei Franz Erhard Walther als kollegiales (vielleicht sogar austauschbares) Team zusammenarbeitet, bleibt die gesamte Inszenierung kühl und wenig spektakelhaft. Mit anderen Worten: Es gibt bei Franz Erhard Walther überhaupt keinen Glamour. Sie steht damit im krassen Gegensatz zu anderen Künstler:innen-Paaren wie Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat oder Anne Imhof und Eliza Douglas. Dort schwingt immer auch der celebrity-Status mit, der gewissen Persönlichkeiten auf dem internationalen Mega-Kunstmarkt anhaftet und der bewusst für die Marktwertsteigerung von Künstler:innen eingesetzt wird.

Solche Nutzen-Beziehungen hat Isabelle Graw in ihrem aktuellen Buch Vom Nutzen der Freundschaft dem gesamten Kunstbetrieb diagnostiziert.9 Künstler:innen, die sich lieben und zusammenarbeiten, Kunstkritiker:innen, die die besten Freund:innen bekannter Künstler:innen werden, Sammler:innen, die zu privaten Abendessen von Galerist:innen eingeladen werden. Gerade der Kunstmarkt, der mit einer ungewöhnlichen Ware handelt, lässt professionelle Beziehungsformen verschwimmen: Alle sind miteinander befreundet, und alle können potentiell für die eigene Karriere von Relevanz sein. Jede freundschaftliche oder romantische Begegnung kann daher in soziales Kapital umgesetzt werden.10

Ganz so drastisch ist es bei Franz Erhard Walther nicht. Die Paare, die hier zusammentreffen, erscheinen als kollegial zusammenwirkende Arbeiter:innen. Sie kommen sich durchaus nahe, werden intimer, wenn auch langsam und verhalten. Weil für Franz Erhard Walther nicht relevant zu sein scheint, dass berühmte Performer:innen Für zwei aktivieren, nutzt er den Celebrity-Status des performenden Paares nicht aus, um sich zu fame zu verhelfen. Ganz anders agierten Marina Abramović und Ulay, deren künstlerisches Konzept die kulthafte Ausstellung ihrer Paar-Beziehung maßgeblich beinhaltete. Dies schloss die Trennung sowie die inszenierte Versöhnung des Paares Anfang der 2000er-Jahre ein.

Das verletzende Paar

Klar ist, dass Beziehungsformen (Liebesbeziehungen, Freund- und Bekanntschaften) im Kunstfeld selten frei von Hierarchien sind, weil Künstler:innen selbst in der Paarform auf dem hart umkämpften Kunstmarkt um Aufmerksamkeit buhlen.11 Auch wenn die Beziehung kreativ befruchtend und anregend sein kann, so ist sie doch innerhalb der Sphären von Wettbewerb und Leistungsdruck verortet. Und manchmal wird der Wettbewerb zu groß, die Beziehung bricht ab oder schlägt sogar in Feindschaft um. Etwas davon steckt auch in der Gewalt von Marina Abramovićs und Ulays Breathing In/Breathing Out (1977).
In den 1970er- und 80er-Jahren inszenierten sich Marina Abramović und Ulay als das Kunstszene-Paar schlechthin. So ging es in fast allen Performances um Liebes-, Abhängigkeits- und Geschlechterbeziehungen.12 Wie in einigen anderen ihrer gemeinsamen Performances entsteht auch in Breathing In/Breathing Out eine widersprüchliche Spannung, denn das Miteinander-Sein des Paares ist an dessen Atemlosigkeit geknüpft.

Im 19-minütigen Schwarz-Weiß-Video (enger Bildausschnitt, linke Bildhälfte Marina Abramović, rechts Ulay) drücken sie ihre Münder aufeinander, so dass ein irritierender Kuss entsteht. Die Nasenlöcher des Paares sind mit Zigarettenfiltern verstopft, die Augen bisweilen merkwürdig aufgerissen. Dadurch entsteht eine Ambivalenz des Kusses, vielleicht des glücklich vereinten Liebespaares überhaupt, denn während sich das Paar etwas gibt, den Kuss, nimmt es sich auch etwas, die Luft. Laut Performanceskript atmet Ulay ein, dann atmet er durch den Mund aus, in Marina Abramovićs Mund hinein, eine Luft, die sie wiederum einatmet, ausatmet, zu Ulay herüberbläst und so weiter und so weiter.13 Das Ganze ziehen die beiden in ihrer hardcore Abramović-Ulay-Art fast 20 Minuten durch, bis nur noch Kohlendioxid übrig ist.14 Über Mikrofone, die an ihren Hälsen festgeklebt sind, wird das Ringen nach Luft akustisch verstärkt. Dabei löst Breathing In/Breathing Out ein quälendes Gefühl in mir aus. Das Röcheln der Akteur:innen ist von jeder sexiness befreit. Es erinnert vielmehr an die schwere Atmung einer Sterbenden. Diesen Eindruck wollen Marina Abramović und Ulay auch provozieren und inszenieren (sonst hätten sie sich die akustische Verstärkung ihres gequälten Atems erspart). Wie so oft geht es bei Marina Abramović und Ulay um eine performativ verstärkte Lebensgefahr, die sich das Paar selbst antut und die das Publikum ertragen muss.


Marina Abramovic/Ulay, Breathing In/Breathing Out, 1977, mumok Wien.


Breathing In/Breathing Out steht im Zusammenhang mit anderen Gewalt- und Selbstverletzungsperformances der 1970er-Jahre wie sie Chris Burden oder Gina Pane vollzogen. Marina Abramović und Ulay jedoch brachten diese Art von Performance auf ein neues Level: Sie transformieren die Gewaltperformance des Individuums zur verletzenden Performance des Paares. „Relational Performance” nannten Marina Abramović und Ulay diese Praxis auch.15 Denn im Vergleich zu beispielsweise Chris Burdens ikonischer Performance Shoot (1971), bei der wir bis heute nur schemenhaft wissen, wer eigentlich auf den Arm des Künstlers schoss, werden bei Marina Abramović und Ulay der personelle Konnex der Verletzbarkeit und Verletzung ausgestellt. Während in Shoot die verletzende Person mit Waffe kein egalitärer Mit-Performer war, hängt bei Breathing In/Breathing Out das Sich-Verletzbar-Machen mit der verletzenden Person zusammen.

Marina Abramović und Ulay machen als performendes Paar die Abhängigkeit von Verletzung sichtbar. Sie performen die Wechselseitigkeit von Abhängigkeit sowie das Vertauschen von Rollen. Beide tun sich etwas an. Ich denke, dass damit etwas Wahres über romantische Paar-Beziehungen zum Ausdruck kommt, weil es eben nicht so einfach ist. Manchmal fehlt die Luft zum Atmen, obwohl die Partner:in anwesend ist, vielleicht sogar, weil sie anwesend ist. Das ändert nichts daran, dass das Paar durch liebevolle Abhängigkeit miteinander verbunden ist. Diese Spannung muss letztlich ausgehalten werden. Breathing In/Breathing Out versucht das, auch wenn es für mich quälend ist, die Performance in dieser Widersprüchlichkeit anzusehen.

Während Marina Abramović und Ulay ihre Liebesbeziehung bewusst nutzten, um sie für ökonomisch-künstlerische Zwecke zu inszenieren, zeigten sie ihre Beziehungsform auch als gegenseitiges Verletzen und Sich-Verletzbar-Machen. Während Franz Erhard Walthers Werkhandlungen reibungslos durchgeführt werden, sind Marina Abramović und Ulay am Ende ihrer Performance dysfunktional, ausgelaugt, atemlos. Marina Abramović/Ulay und Franz Erhard Walther bedienen unterschiedliche Traditionen der Performancekunst und performen daher auch romantische Zweierbeziehungen anders. Franz Erhard Walther zeigt Interesse an der schlichten Handlung, der bloßen Ausführung der Anweisung aus dem Werksatz. Wenn man ehrlich ist, passiert eigentlich sehr wenig. Und alles, was passiert, wird mit Ruhe und Bedachtheit ausgeführt. Marina Abramović dagegen war seit Beginn ihrer Karriere am körperlichen Extremzustand (etwas passiert!) sowie an christlich konnotierten Symbolen, andauernden Qualen oder Heilung interessiert. Die verletzenden Dynamiken des Paares erhalten einen existentiellen Status, sozusagen gemeinschaftliches Leben am Limit. Beide Performances stellen legitime Weisen dar, heterosexuelle Beziehungen innerhalb eines kapitalistisch operierenden Kunstmarktes zu präsentieren: als verletzend-verletzlich und als effizientes Team.

Das ringende Paar

„Bausch’s dance dramas explored in minute detail the dynamics between women and men – ecstatic, combative and […] interdependent […]. The woman – long-haired, powerful […] – and the men […] made movements that were repetitive, obsessive and fastidious. They were played out over long hours as behavioral discourses between the two sexes.”16

(RoseLee Goldberg, Performance Art)


Ähnlich wie bei Marina Abramović und Ulay kreisen auch Pina Bauschs Performances seit den 1970er-Jahren immer wieder um heterosexuelle Beziehungen, ihre Dynamiken, ihre Gewalt, ihre Erotik. Was RoseLee Goldberg treffend als gespielten und inszenierten Verhaltens-Diskurs beschreibt, findet sich ebenso in Pina Bauschs Choreografie Vollmond (2006) wieder: Hier gibt es Szenen, die ein Austarieren und Ringen um Macht durchspielen. In der mehrstündigen Performance, die vom Tanztheater Wuppertal 2022 auf dem ImPulsTanz Festival aufgeführt wurde, kommen zwölf Tänzer:innen wiederholt auf die Bühne. Häufig erscheinen sie als Freundschafts- oder Liebespaare. Die Bühne ist dunkel und leer, einzig ein großer Felsen im Hintergrund, dazu viel Wasser, das sich wie ein kleiner Fluss von rechts nach links über die Bühne erstreckt. Die Tänzerinnen sind in lange Kleider, die Männer in Hemd und Hose gesteckt. Das Kostüm ist sehr klassisch, hetero und binär gedacht, so wie man es von den meisten von Pina Bauschs Stücken kennt. Die Stärke von Vollmond liegt an anderer Stelle: Denn die Performance spielt immer wieder spannungsvolle Momente von Abhängigkeit/Unabhängigkeit sowie von Nähe/Distanz durch.

So zum Beispiel, wenn ein Paar die Bühne betritt und sich einander gegenüberstellt. Der Tänzer streckt die Arme zu den Schultern der Tänzerin aus, schüttelt sie stark, so dass ihr Kopf und Oberkörper wilde Bewegungen machen. Ihr Gesichtsausdruck bleibt dabei starr, unberührt. Sein Zugriff auf sie wirkt gewaltsam. Er hört schlagartig auf, drückt die Tänzerin in einer Umarmung an sich und küsst sie wild auf den Mund. Dann schüttelt er sie wieder. Gewalt und Liebe scheinen sich hier die Hand zu geben, auf die Verletzung folgt der Kuss. Es bleibt unklar, welche Position die Tänzerin in der Szene hat. Sie wirkt jedoch an der Aktion nicht egalitär beteiligt, wie es bei Marina Abramović und Ulay oder bei Franz Erhard Walther der Fall ist. Vielmehr befindet sich der Tänzer in der Machtposition, sie zu schütteln und zu küssen, ohne ihre Einwilligung erhalten zu haben.


Tanztheater Wuppertal, Pina Bausch, Vollmond. Ein Stück von Pina Bausch, ImPulsTanz Festival, Wien, 2022, Foto: yako.one.


In anderen Szenen in Vollmond haben die Tänzerinnen die machtvollen Positionen inne. Vier von ihnen kommen mit Stühlen auf die Bühne. Plötzlich treten die Tänzer hinzu, laufen auf die Sitzenden zu, springen in leichten Bewegungen auf die Stuhlkanten, um den Frauen einen Kuss zu geben. Diese Küsse wiederholen sich in schneller Abfolge und kommen stets von unterschiedlichen Männern. Erlauben und Gewähren werden als mächtige Positionen dargestellt. Denn die Tänzerinnen wirken wie Königinnen, die elegant und distanziert auf ihren Holzstühlen thronen und Huldigungen ihrer Untertanen entgegennehmen. Der Kuss ist in dieser Szene anders besetzt als bei Marina Abramović und Ulay. Hier gibt es Leichtigkeit und Humor, wenn im schnellen Wechsel die fliegenden Küsse ausgetauscht werden. Gleichzeitig buhlen die laufenden Tänzer um die Aufmerksamkeit der Frauen. Sie kommen sich teilweise in die Quere und müssen ausweichen. In der Szene wird nicht nur gefragt, wer die Küsse gewährt, sondern auch, welche Konkurrenzbeziehungen unter den Männern entstehen, wenn sie die Küsse vergeben wollen. Pina Bauschs Vollmond kreist um ein Ringen um die Oberhand – innerhalb heterosexueller Liebesbeziehungen oder innerhalb Freundschaften.

Entscheidend ist, dass in Vollmond die Beziehungen nur von kurzer Dauer sind. Weil Pina Bausch eine Vielzahl von Tänzer:innen einsetzt, kann sie destruktive Dynamiken inszenieren. Denn die Paare kommen innerhalb einer Szene zusammen und trennen sich dann wieder. Nie sind sie länger als eine Szene zusammen.17 Die explosiven Dynamiken und Hierarchien, die zwischen den Personen herrschen, können nicht lange bestehen, ohne ernstzunehmende Folgen für die Beteiligten zu haben. Daher zerbrechen sie, bevor der Schaden zu groß wird. Pina Bausch inszeniert mit theatralen Mitteln (Licht, Bühnenbild, Kostüm) und Elementen der Entertainmentkultur (Pop-Musik, durchtrainierte normschöne Körper) diesen Machtkampf. Dadurch entsteht ein stärkeres Narrativ als bei Franz Erhard Walther oder Marina Abramović/Ulay. Vollmond macht aus der fortwährenden Abstoßung und Anziehung der wechselnden Paare ein tänzerisches Ereignis mit Unterhaltungswert.

Die Paarbeziehungen bei Pina Bausch sind explosiv und kurzweilig – wie ein Streichholz, das kurz aufleuchtet und dann schnell abbrennt. Obwohl in Vollmond Kämpfe und Hierarchien teils gewaltvoll ausgetragen werden, sehe ich in ihnen noch eine Produktivität. Das Ringen um Macht verwehrt eine stille Unterdrückung der „weiblichen“ Kreativität, wie sie Kate Zambreno in ihrem Buch beschreibt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb kein richtiger Kampf zwischen den Paaren mehr übrig, weil die Frauen einfach platt gemacht wurden. Genauso wenig aber operieren Pina Bauschs Tänzer:innen wie ein eingespieltes Team. Die performenden Paare können aus den kurzen Beziehungen keinen Nutzen oder Vorteil ziehen. Vielmehr tarieren sie das Aufeinandertreffen immer wieder aus: exzessiv, kämpferisch und voneinander abhängig.

Performativität des Paares

Beziehungsformen sind vielfältig, das ist eh klar. Und während die hegemoniale Form des Zusammenlebens noch immer die monogame, heterosexuelle Beziehung mit gemeinsamer Wohnung, Hund oder Kind darstellt, haben queere Personen schon längst neue Formen des Zusammenlebens erprobt. Trotzdem bevölkern Paarbeziehungen die Kunstwelt in Realität wie in Performance gleichermaßen – und manchmal verwischen die Grenzen von Kunst und Wirklichkeit wie bei Marina Abramović und Ulay auch heute noch stark.

Theoretisch lässt sich das Nachdenken über performte Paarbeziehungen zwischen Isabelle Graw und Kate Zambreno einordnen. Auf der einen Seite steht mit Isabelle Graw eine auf (erhofften) ökonomischen Vorteil basierte Paarbeziehung. Sie lebt vom Glamour, Ruhm und Erfolg des Paares und der jeweilig beteiligten Künstler:innen. Weil es sich um eine reine Nutzen-Beziehung handelt, kann sie beendet werden, sobald die erwartete Karriere ausbleibt. Auf der anderen Seite stehen Paarbeziehungen aus dem 20. Jahrhundert, in denen die patriarchale Gewalt zur Unterdrückung der beteiligten Frauen führte. Hier konnte es keine gegenseitige Nutzung der Gemeinschaft geben, denn eine Partner:in war nicht als egalitär mitwirkender Teil der Beziehung gedacht.

Das sind zwei Extreme: eine auf Gegenseitigkeit beruhende Nutzung der Beziehungsform bei Isabelle Graw, eine auf Einseitigkeit beruhende Ausschlachtung der „weiblichen“ Kreativität bei Kate Zambreno. Beide Extreme sind vielleicht in der Realität nicht anzutreffen, immer gibt es Nuancen, das schreibt Isabelle Graw auch selbst: „Wahre” Liebesbeziehungen und Nutzen-Beziehungen schließen sich nicht aus. Zum Aufspannen eines theoretischen Rahmens sind die beiden Extreme aber geeignet, denn innerhalb des Rahmens lassen sich das arbeitende Paar von Franz Erhard Walther, das verletzende Paar von Marina Abramović und Ulay sowie das ringende Paar von Pina Bausch verorten und mit ihren performancehistorischen Traditionen zusammenbringen.

Die patriarchale Gewalt, die Kate Zambreno beschreibt, taucht in subtilerer Form in der kunstwissenschaftlichen Bearbeitung von Walthers 1. Werksatz auf. Sie hielt es nicht für nötig, die Beteiligung von Johanna Frieß tiefgreifend zu erforschen. Ihre Teilhabe am kreativen Prozess ist so verschüttet wie einige der Künstler:innen-Ehefrauen des vergangenen Jahrhunderts. Gleichzeitig lässt sich Franz Erhard Walthers Für zwei auch mit Isabelle Graw verstehen: Die Werkhandlungen lassen sich derart smooth ausführen, weil das Paar als ökonomische Kolleg:innen-Gemeinschaft funktioniert, in der effizient die im Werksatz vorgeschriebenen Handlungen durchgeführt werden.

Genauso lässt sich Breathing In/Breathing Out als Ergebnis der künstlerisch-ökonomischen Verwertung des Liebespaares verstehen. Mindestens so wichtig ist dabei, die Performance als Allegorie von Paarbeziehungen allgemein zu verstehen. Performance wird hier bewusst genutzt, um die interpersonellen Verstrickungen von Verletzbarkeit und Verletzung sichtbar zu machen. Zudem entwickelt sie die Performancekunst weiter, indem sie sich von der Einseitigkeit früherer Verletzungsperformances abwendet.

Auch Vollmond spannt sich im Dazwischen auf. Die an Geschlechternormen ausgerichtete Kleiderordnung der Tänzer:innen erinnert zunächst an Ehedynamiken des 20. Jahrhunderts. Diese werden aber im Lauf des Stücks transzendiert, indem „weiblich“ konnotierte Handlungen wie das Zulassen als machtvolle Position innerhalb der Choreografie gezeigt werden. Daraus resultiert das Ringen um Vorherrschaft innerhalb der Beziehung, erneut eine mit Isabelle Graw fassbare Konkurrenz, die bei Pina Bausch vor allem um emotionale Unabhängigkeit und Eifersucht kreist – weniger um berufliche Erfolge.


Johanna Luisa Müller ist Kunsthistorikerin und lebt in Wien.



1 Kate Zambreno, Heroines (South Pasadena: Semiotext(e), 2012): 38.
2 ebd., 74.
3 Aus konservatorischen Gründen ist eine Aktivierung von Franz Erhard Walthers Werksatz für das Publikum nicht mehr möglich. Auch während seiner großen Retrospektive im Haus der Kunst (München) 2020 wurden die Performances ausschließlich von ausgewählten Personen durchgeführt.
4 vgl. Carl Vogel, „Zur Biographie der frühen Arbeiten von Franz Erhard Walther“, in: Götz Adriani (Hrsg.), Franz Erhard Walther: Arbeiten 1955-1963. Material zum 1. Werksatz 1963-1969 (Köln: DuMont, 1972): 222.
5 Leider sind mir die Namen und Geschichten der performenden Personen nicht bekannt. Weder die Kurator:innen der Ausstellung noch der Ausstellungskatalog oder die Sammlungsleiterin konnten über die Performer:innen Auskunft geben. Dass Franz Erhard Walther an einigen Performances selbst teilnahm, ist aber belegt.
6 vgl. Adriani (Hrsg.), Franz Erhard Walther: Arbeiten 1955-1963. Material zum 1. Werksatz 1963-1969.
7 vgl. Benjamin H. D. Buchloh, „Conceptual Art 1962-1969: From the Aesthetic of Administration to the Critique of Institutions“, October, Vol. 55 (Winter 1990): 105-143.
8 Julia May Jonas, Vladimir. A Novel (London: Picador, 2022): 133.
9 vgl. Isabelle Graw, Vom Nutzen der Freundschaft (Leipzig: Spector, 2022).
10 vgl. ebd., 113.
11 vgl. ebd.
12 vgl. Isabella Zamboni, „One Work. Marina Abramović & Ulay — The Lovers (1988)“, Spike Art Magazine, No. 71 (Frühling 2022): 42-46.
13 vgl. Lena Essling (Hrsg.), Marina Abramović – The Cleaner (Stuttgart: Hatje Cantz, 2017): 108f.
14 Ursprünglich war die Performance für 22 Minuten geplant, wurde aber nach 19 Minuten vorzeitig abgebrochen.
15 Andrea Elisabeth Meier, Präsenz des Augen-Blicks. Untersuchung zum Präsenz-Begriff in der Performance-Kunst von Marina Abramović (Potsdam: Dissertation an der Philosophischen Fakultät, 2018): 53ff.
16 RoseLee Goldberg, Performance Art. From Futurism to the Present (London: Thames & Hudson, 2011): 205f.
17 Der immer wieder erfolgende Abbruch von Beziehungen spiegelt sich auch in der Musik wider. Die begleitenden Musikstücke werden mit harten Übergängen eingespielt, als könnten auch sie nicht von einer Szene in die nächste erhalten werden.



Journal der Freien Universität Berlin

Berlin, 2024