Call For Papers
The Everyday
— For the English version, please see below —
re:visions, ein deutsch- und englischsprachiges Online-Journal für transdisziplinäre Texte zu Kunst und visueller Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts, lädt Studierende ein, Abstracts für die kommende Ausgabe mit dem Thema „The Everyday” sowie Rezensionen einzureichen.
Das Alltägliche: Es ist uns ebenso vertraut, wie wir ihm entfremdet sind. Grundsätzlich mehrdeutig – unbedeutend und allumfassend, seine Dimensionen undefinierbar – ist seine Bedeutung schwer festzulegen. Es ist, wie Maurice Blanchot schreibt, „unerschöpflich, unantastbar, immer offen und sich immer Formen oder Strukturen entziehend” (1959). Es ist das Ordinäre, das Unscheinbare und das Gewöhnliche, das sich in Zyklen von Montag bis Freitag wiederholt. Es sind die automatisierten Mechanismen und reflexiven Handlungen, die wir nur dann beachten, wenn jemand unsere Aufmerksamkeit auf sie lenkt.
In der Kunstgeschichte begegnet uns die reiche Tradition des Alltäglichen nicht nur als Experiment und Spiel, sondern auch als Strategie, die Schlaglichter auf politische Ungerechtigkeiten wirft. Mit dem Readymade und der surrealistischen Assemblage wurden Gegenstände des täglichen Gebrauchs in Kunst verwandelt. Die Praxis der Situationist:innen, im städtischen Raum umherzuschweifen, stellte alltägliche Handlungen und Orte in den Mittelpunkt. In den 1970er Jahren eigneten sich feministische Künstler:innen private und häusliche Räume als Schauplätze sowohl der künstlerischen Praxis als auch des politischen Kampfes an. Eine Strategie zeitgenössischer Künstler:innen, die in sozialen Praktiken und im Aktivismus wurzelt, wie die von Caroline Woolard oder der Gulf Labor Artist Coalition, besteht darin, die uns bekannten sozio-ökonomischen Gefüge direkt zu infiltrieren und zu verändern.
Unser tägliches Leben spielt sich heute zu einem Großteil auf digitalen Plattformen ab. Dementsprechend haben digitale Technologien die Organisations- und Funktionsweisen von Künstler:innen und der Kunstwelt hinsichtlich Produktion, Distribution und Rezeption umstrukturiert (Bishop 2012). Shoshana Zuboff spricht so auch vom Zeitalter des Überwachungskapitalismus, in dem durch die massenhafte Abschöpfung von persönlichen Informationen und ihrer Verarbeitung mit dem Einsatz von Big Data Profit erzielt wird (Zuboff 2019). Während sich der kurzlebige Moment der sogenannten Post-Internet-Art noch im physischen Raum von Institutionen abspielte, gingen Künstler:innen wie Amalia Ulman und Beeple einen Schritt weiter, indem sie ihre Arbeiten für Instagram und andere soziale Netzwerke konzipierten. Werke von Kunstschaffenden wie Arthur Jafa oder Kahlil Joseph zeigen hingegen umgekehrt, wie sich die Internetkultur ihren Weg in Kunsträume gebahnt hat.
Dokumentarische und ethnografische Methoden der Kunstpraxis sind ebenso durch technologische Neuerungen geprägt: Von den ersten schweren Handkameras bis hin zu den heutigen Smartphone-Kameras im Taschenformat hat sich die Bildproduktion stark demokratisiert, was zu einem immersiven Erfassen und Teilen von gelebten Erfahrungen geführt hat. Die aufgezeichnete Verquickung von Erlebtem/Anekdotischem mit Fiktion oder Philosophie in autotheoretischen oder -fiktiven Arbeiten von Autor:innen und Künstler:innen wie Emine Sevgi Özdamar, Ocean Vuong, Maggie Nelson, Annie Ernaux, Gloria Anzaldúa, Mary Kelly oder Adrian Piper hingegen führt zum Subjekt zurück und lässt sich methodologisch als queer-feministische Erforschung der reflexiven Modi des Selbst beschreiben (Fournier 2021).
Die Allgegenwärtigkeit von Objekten materieller Kultur im Kreislauf globaler Ökonomien, wie Plastik, das „sowohl zu Eimern als auch zu Juwelen werden kann” (Barthes 1957), lässt sich nicht nur im Kontext von Arbeit verstehen, sondern auch aus der non-anthropozentrischen Perspektive des Neuen Materialismus. Alltagsmaterialien hinterfragen so Modelle, die unser Leben strukturieren (Bennett 2010) und ermöglichen Reimaginationen beispielsweise der Arbeitswelt. Die Arts-and-Crafts-Bewegung wollte der Entfremdung der Arbeit entgegentreten, das Bauhaus erweiterte diese Vision, indem es das Handwerk mit einer Maschinenästhetik vereinte (Weingarden 1985). Auch das Wiederaufleben von DIY oder „Craftivism” fasst durch die Verflechtung mit digitalen Medien sowie einer Neubetrachtung von Häuslichkeit, weiblichen (Re-)Produktionsräumen und politischer Anpassungsfähigkeit neue Elemente der Alltäglichkeit mit ein (Bratich & Brush 2011).
Es gibt nichts Universelles am Gewöhnlichen – im Gegenteil, es ist facettenreich und vielfältig. Wenn wir danach suchen, finden wir es in Dimensionen, die sozial, geographisch, wirtschaftlich, genderspezifisch, rassifiziert und individualisiert sind. Daher laden wir Euch ein, die verschiedenen Aspekte des Alltäglichen zu untersuchen – von Popkultur über Psychogeographie und Eskapismus bis hin zu Hausarbeit, Aktivismus und (sozialen) Netzwerken – und Ideen des Ordinären oder Außergewöhnlichen aus einer Vielzahl von Perspektiven aufzugreifen.
Die Einsendungen können unter anderem folgende Aspekte behandeln, ohne darauf limitiert zu sein:
- das Alltägliche innerhalb der Kunstgeschichtsschreibung, visuellen Kultur, visuellen Anthropologie etc. und die (Un-)Fähigkeit der Kunstgeschichte, sich damit auseinanderzusetzen
- technologische Auswirkungen auf Repräsentation, Wahrnehmung, Rezeption, Produktion von Kunst und Kultur sowie deren Reflexion durch Kommunikationstechnologien, militärische und wissenschaftliche Entwicklungen, Künstliche Intelligenz, Algorithmen und Kulturtechniken im Allgemeinen
- materielle Kultur, Architektur, Mode und Design, Handwerk und DIY, Alltags- und Popkulturphänomene
- dokumentarische und autobiografische Modi des Kunstschaffens, einschließlich Themen im Kontext von Ethnographie, Anthropologie, dem Archiv, (Amateur:innen-) Fotografie oder Film
- alltägliche Orte, wie das Zuhause und der Arbeitsplatz, öffentliche Räume, wie der Straßenraum oder (Kunst-)Institutionen und ihre Subversion
- soziale Praktiken, Aktivismus und partizipative Kunst sowie andere Praktiken, die Individuen oder Gemeinschaften in ihrer Umgebung situieren
Neben Essaybeiträgen zum Thema „The Everyday” begrüßen wir auch die Einsendung von nicht themenbezogenen Rezensionen (von Ausstellungen, Filmen, (Fach-)Literatur, Performances etc.). Insbesondere marginalisierte Communities, wie queere Menschen oder BIPoC, ermuntern wir zu Einreichungen. Für Essays erbitten wir, ausgearbeitete Abstracts (600-800 Wörter) einzureichen, Rezensionen hingegen als vollständigen ersten Entwurf (1.500-2.500 Wörter). Ausgewählte Autor:innen werden eingeladen, einen Essay im Umfang von 4.000-6.000 Wörtern zu schreiben. Bewerbungen entweder auf Deutsch oder Englisch inklusive kurzem CV bitte bis zum 17. Mai 2021 per Email als Word-Datei an redaktion@revisionsjournal.de schicken (Betreff: „Proposal Essay” oder „Proposal Review”). Die Beiträge werden in der zweiten Ausgabe von re:visions erscheinen, deren Veröffentlichung für den Spätsommer 2021 vorgesehen ist.
Weitere Richtlinien für Einreichungen finden sich in unserem Stylesheet. Weitere Informationen und Neuigkeiten zu re:visions gibt es auf unserem Instagram-Account @revisions.journal.
re:visions, a German- and English-language digital student journal for transdisciplinary texts on art and visual culture of the 20th and 21st century, is accepting article proposals for its upcoming issue, themed “The Everyday,” as well as reviews.
The everyday: we are intimately acquainted with it, just as we are, antithetically, estranged from it. It is a site that is fundamentally ambiguous—insignificant and all-consuming, its loci infinite, its dimensions undefinable, its meaning elusive. It is, as Maurice Blanchot writes, “inexhaustible, unimpeachable, always open-ended and always eluding forms or structures” (1959). It is the ordinary, the trivial, and the habitual, repeated in cycles from Monday to Friday. It is the automated mechanisms and reflexive actions we heed only when someone calls our attention to them.
A rich tradition of ‘the everyday’ appears throughout art history as a site of experiment and play, but also in a way that sheds light on political injustices. With the readymade and Surrealist assemblage, ordinary objects were transformed into art. In the Situationists’ practice of walking or drifting through urban space, commonplace actions and sites were foregrounded. Feminist artists of the 1970s appropriated private and domestic spaces for both artistic and political purposes. A strategy of contemporary artists rooted in social practice and activism, such as Caroline Woolard or the Gulf Labor Artist Coalition, has been to directly infiltrate and modify the social and economic fabric as we know it.
Much of day-to-day life now plays out on digital platforms. Accordingly, digital technologies have rewired the interests of artists and have altered processes of production, distribution, and reception in the art world. Shoshana Zuboff has called this the age of surveillance capitalism—an age in which personal data and social lives are being mined for data collection and profit (Zuboff 2019). While the short-lived and hard-to-define moment of so-called post-internet art still inhabited physical institutional spaces, its successors—such as the artists Amalia Ulman and Beeple—have gone a step further by conceptualizing works for Instagram and other social media sites. Additionally, works from the likes of Arthur Jafa or Kahlil Joseph demonstrate how online material has made its way into art spaces.
Technologies have also been instrumental for documentary and ethnographic methods of art- making. From the first heavy, handheld cameras to today’s pocket-size smartphone shooters, image production has become highly democratized, giving rise to an immersive mode of capturing lived experiences. Autotheory and autofiction—genres that infuse narrative with memoir or philosophy—also blend the embodied and recorded. In their possibilities for self-reflexivity, these genres are especially fitting for queer-feminist inquiry and new activism (Fournier 2021), and they have been adopted as a methodology by writers and artists such as Emine Sevgi Özdamar, Ocean Vuong, Maggie Nelson, Annie Ernaux, Gloria Anzaldúa, Mary Kelly, and Adrian Piper.
We might also turn to material culture. Objects caught in the circuitry of the global economy, like plastic, “capable of “becom[ing] buckets as well as jewels” (Barthes 1957), may be read in terms of labor or may be considered from a new materialist, non-anthropocentric perspective. Everyday materials can also be used to question or reimagine the models (of labor, for instance) that structure our lives (Bennett 2010). The Arts and Crafts Movement intended to combat the alienation of the worker, and the Bauhaus extended this vision by translating craft values into a machine aesthetic (Weingarden 1985). The more recent resurgence of DIY or “craftivism” enfolds new elements of everydayness through its intertwinement with digital media, its reconsideration of domesticity and female spaces of (re)production, and its political adaptability (Bratich & Brush 2011).
There is nothing universal about the ordinary; on the contrary, it is multifaceted and multiple. When we look for it, we find it in dimensions that are social, geographical, economic, gendered, racial, and individual. In welcoming contributors to examine these many different aspects of the everyday —from pop culture, psychogeography, and escapism to housework, activism, and (social) networks —we invite you to invoke ideas of the ordinary or exceptional from a multitude of perspectives.
Topics of interest include, but are not limited to:
- the treatment of the everyday within art historiography, visual culture, visual anthropology etc., and art history’s ability—or lack thereof—to grapple with the everyday
- technology's effect on representation, perception, consumption, and production of art and culture and the resulting development of communication technology, reproductive technology, algorithms, AI, capitalistic extractive technology, military and science developments, and cultural techniques at large
- material culture, architecture, fashion and design, craft and DIY, “high” and “low” art forms
- documentary and autobiographical modes of art-making, including themes related to ethnography, anthropology, the archive, (amateur) photography, and film
- investigations and subversions of everyday spaces, such as the home and the workplace or public spaces such as streets or (art) institutions
- social practice, activism, participatory art, and other practices that aim to situate subjects or communities within their environments and contexts